Putin in seiner jährlichen TV-Bürgerfragestunde:Der Zar ist nah

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Eine Sendung als Sündenregister: Russland Präsident Wladimir Putin während der TV-Bürgerfragestunde "Der direkte Draht". (Foto: AP)
  • Bei ihrer 16. Auflage wird die russische TV-Bürgerfragestunde "Der direkte Draht zu Wladimir Putin" in verändertem Format ausgestrahlt.
  • Erstmals sind Gebiets-Gouverneure und Regierungsmitglieder per Videokonferenz zugeschaltet.
  • Der Präsident nutzt die Veränderung, um sich noch mehr als sonst als oberster Problemlöser zu präsentieren.

Von Paul Katzenberger, Moskau

Einmal im Jahr bittet der russische Präsident das ganz Volk zur Gruppenaudienz. Da dürfen die Bürger Wladimir Putin mit ihren ganz persönlichen Nöten per Telefon, SMS, Videobotschaften und über die sozialen Netzwerke im Staatsfernsehen konfrontieren: "Der direkte Draht zu Wladimir Putin" heißt die Show, die in diesem Jahr zum 16. Mal übertragen wurde.

Dass das Format bei diesem Alter etwas in die Jahre gekommen sein könnte, war offensichtlich auch dem Kreml klar. Und so entschied man sich für einige Veränderungen, um in diesem Jahr wieder etwas mehr Spannung in die Angelegenheit reinzubringen.

So war zum ersten Mal seit 2008 nicht das übliche Publikum im Studio, bestehend aus Regierungsvertretern, Wirtschaftskapitänen und normalen Bürgern, sondern nur eine Gruppe von jungen Freiwilligen, die mitgeholfen hatten, die mehr als zwei Millionen eingegangenen Fragen zu bearbeiten. Als Dank dafür, durften sie in Sichtweite zu ihrem Präsidenten Platz nehmen.

Der Umstand, dass sich Putin nicht live gemeinsam mit einem größeren Publikum zeigte, sollte den Präsidenten nach Auffassung des Politologen Gleb Pawlowskij ins Zentrum des Geschehens rücken: "Putin präsentiert sich, als ob er in Personalunion die gesamte Regierung darstellt", sagte Pawlowskij der Moscow Times. "Da stören andere Leute nur."

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Die zweite große Änderung des Formats bestand allerdings in der Hinzuziehung von Leuten, die bislang kein Teil der Show waren. Aber auch das diente vorrangig dem Ziel, Putin als zentrale Figur der Staatsführung unbefleckter und einzigartiger erscheinen zu lassen, als er es eigentlich bei der Vielzahl der Probleme sein kann, die in der Sendung stets angesprochen werden. Dass also die Gebietsgouverneure und Minister der Regierung bei einzelnen Fragen per Videokonferenz zugeschaltet wurden, diente in etlichen Fällen dazu, sie vorzuführen und als den Schuldigen für die benannten Probleme hinzustellen.

Zu weit unten in der Warteliste

Der "Direkte Draht" dient Putin schon seit vielen Jahren als Sündenregister, mit dem er Druck nach unten weitergibt. Denn nach der Sendung dauerte es oft nicht lange, bis sich der Präsident den Gouverneur der Gebiete vorknöpfte, in denen Bürger in der Sendung etwas beanstandet hatten. Als sich 2017 etwa ein Elfjähriger aus Nachodka im fernen Osten über den Kohlenstaub in seiner Heimatstadt beschwerte, der die Luft bis zur Unerträglichkeit verpeste, war das ein Höhepunkt der Sendung: Schon wenige Stunden später ließ der damalige Gouverneur der Region Primorje Messanlagen zur Überprüfung der Luftqualität installieren. Putin hatte ihn sich ganz offensichtlich vorgeknöpft.

Diese Art der Sanktionierung nutzten die Macher des "Direkten Drahtes" nun unmittelbar für ihre Sendung - in einer Art, die die Provinz-Regenten bisweilen wie Schulbuben aussehen ließ.

Als erstes bekam das der Gouverneur der sibirischen Region Tomsk zu spüren. Die 42-jährige Mutter Natalia hatte sich beschwert, dass ihre Familie mit drei Kindern zu weit hinten in einer Warteliste für Bau- und Ackerland stehe. "Ich will meine Kinder landwirtschaftlich ausbilden, aber es gibt kein Land für große Familien. Wie lange soll ich noch warten?", beschwerte sie sich bei Putin. Der zeigte großes Verständnis für die Nöte der Mutter und ließ den verantwortlichen Gouverneur zuschalten.

Kurz und knapp abgekanzelt

Sergej Schwachkin machte geltend, dass es die Infrastruktur nur zulasse, Familien mit vier Kindern auf den Wartelisten zu bevorzugen: "Es reicht ja nicht aus, einfach nur Land zuzuweisen, das muss auch mit Gas- und Wasserleitungen erschlossen sein", verteidigte er sich. Doch das rettete ihn nicht davor, vom Staatschef vor den Augen der Fernsehnation kurz und knapp abgekanzelt zu werden: "Wir sollten uns hier nicht an Formalien festhalten. Bitte schauen Sie sich die Sache an und finden eine Lösung für diese Familie."

Nicht viel besser erging es der Gouverneurin Swetlana Orlowa des Gebietes Wladimir - wegen Beschwerden einer Bürgerinitiative über mangelnde ärztliche Versorgung, dem Gouverneur Wladimir Wladimirow des Gebietes Stawropol - wegen der Beanstandungen einer Mutter, die von Wasserschäden durch Überflutungen des örtlichen Kena-Flusses berichtete, dem Gouverneur der Region Altai, Alexander Karlin, weil Bürger des kleinen Ortes Staraja Sultajka fürchteten, dass die örtliche Schule geschlossen werde.

Eines der bekanntesten Sprichworte in Russland lautet: "Russland ist groß, der Zar ist weit", was aus Sicht der Provinzfürsten so viel heißt, wie: "Was interessiert uns die Zentralregierung im fernen Moskau, wir machen hier unser eigenes Ding."

Genau dieser Botschaft wollte Putin in der TV-Bürgerfragestunde offensichtlich entgegen treten, dabei verschweigend, dass er selbst ja schon seit langem Kompetenzen bei sich gebündelt hat, die früher in den Regionen lagen. Schon in seiner ersten Amtszeit hatte er die Gouverneure entmachtet, indem er sie nicht mehr vom Volk wählen ließ, sondern selbst einsetzte.

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Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen vom März wechselte er innerhalb von wenigen Wochen zehn Provinz-Chefs aus. Die kremlkritische Zeitung Nowaja Gaseta bewertete das damals als Eingriff mit dem Ziel des Kremls, die Kontrolle über bestimmte Regionalbehörden zu erhöhen.

Doch wenn es darum geht, vor der Öffentlichkeit die Verantwortung zu tragen, kommen Putin die Regionalpolitiker offensichtlich genau recht. Denn umso mehr kann er sich als "Oberster Problemlöser" präsentieren, was ihm im "Direkten Draht" auch in diesem Jahr wieder gut gelang.

Denn zur Inszenierung gehörte auch, dass der Präsident gut vorbereitet erschien. Ob es um die Zahl der Zahl der Müllverbrennungsanlagen in Russland (117) ging, um das Budget für den Straßenbau der vergangenen sechs Jahre (5,1 Billionen Rubel) oder um die Früherkennungsrate von Krebserkrankungen (30 Prozent) - bei allen Angaben erwies sich Putin als sattelfest. Der Präsident weiß alles - so der Eindruck.

Putin kann auch selbstironisch sein

Kaum eines der aktuell wichtigen Themen ließen die Sendungsmacher aus - die Bandbreite der aufgerufenen Probleme reichte von Kryptowährungen und illegalen Mülldeponien über die offensichtlich miesen Chancen der russischen Nationalmannschaft bei der bevorstehenden WM bis hin zu einer möglichen Erhöhung des Rentenalters, das in Russland für Frauen bei 55 und für Männer bei 60 Jahren liegt.

Viel Neues kam dabei allerdings nicht heraus, wenn man davon absieht, dass sich Putin ganz offensichtlich von seiner menschlichen Seite zeigen wollte: Den Unmut vieler Bürger über stark gestiegene Benzinpreise machte er sich zu eigen, indem er die Sendungsmacher eine Karikatur von sich selbst bei Twitter mit seinem einstigen Lada Kalina an einer Tankstelle zeigen ließ. Darauf wundert sich der jüngere Putin über die hohen Benzinpreise. Später in der Sendung griff er die Frage bereitwillig auf, ob er über sich selbst lachen könne. "Ja, das tue ich oft."

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Der kalte Machtpolitiker, den viele Beobachter in Putin sehen, trat hingegen nur selten zutage. Er verurteilte die USA dafür, die amerikanische Rechtsprechung auf andere Länder ausweiten zu wollen, kritisierte die Regierung in London dafür, Russland im Fall Skripal zu Unrecht beschuldigt zu haben. Der EU warf er vor, mit zweierlei Maß zu messen, weil die baltischen Mitgliedsländer ihre russischen Minderheiten zu "Nicht-Bürgern" erklären würden, das sei eine "Menschrechtsverletzung", welche die EU ansonsten so gerne bei anderen kritisiere: "Es ist immer leicht, ein Staubkorn im Auge des Gegenübers zu erkennen, und dabei nicht zu bemerken, dass man selbst schon einen Ast im Auge hat."

Warnung an die Ukraine

Nur an einer Stelle hörte sich der russische Präsident tatsächlich sehr bedrohlich an: Auf die Frage hin, ob er glaube, dass die Ukraine die Weltmeisterschaft in Russland dazu nutzen könne, mit militärischen Provokationen in ihren Bürgerkriegsgebieten die Augen der Weltöffentlichkeit auf sich zu lenken, sagte er: "Ich hoffe, dass es zu derlei Provokationen nicht kommen wird. Falls es passieren sollte, so glaube ich, dass das sehr schwere Folgen für die Staatlichkeit der Ukraine haben würde."

Das klang wie eine ernste Warnung an die Adresse der ukrainischen Staatsführung. Sollte der Konflikt mit Kiew tatsächlich eskalieren, könnte Putin in dem Fall die russischen Gebietsgouverneure allerdings nicht dafür haftbar machen.

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