Süddeutsche Zeitung

20 Jahre Putin:Mann mit drei Eigenschaften

  • Paukenschlag vor 20 Jahren: Am Silvestertag trat Russlands damaliger Präsident Boris Jelzin überraschend zurück.
  • Seinen Nachfolger Wladimir Putin wählte Jelzin aus drei Gründen:
  • Putin gewährte Jelzin und "seiner Familie" Immunität, griff in Tschetschenien hart durch und stand zur Marktwirtschaft.

Von Paul Katzenberger, Moskau

Er kam aus dem Nichts, doch nachdem Wladimir Putin schließlich da war, ging alles ganz schnell. Als Russlands Präsident Boris Jelzin am Silvestertag des Jahres 1999 überraschend zurücktrat und Putin Jelzins Amtsgeschäfte übernahm, hatte sich der damals 47-Jährige nur sehr kurz auf der großen politischen Bühne des Landes bewegt.

Doch Putins Berufung zum Ministerpräsidenten und gleichzeitig ausdrücklich zu Jelzins Wunschkandidaten für das Präsidentenamt knapp fünf Monate zuvor hatte sich im Hintergrund schon länger angebahnt. Nur Putin brachte unter allen denkbaren Kandidaten alle drei Eigenschaften mit, die sich Jelzin von seinem Nachfolger wünschte.

Zwei dieser Erwartungen hatte Sergei Stepaschin - Putins Vorgänger als Ministerpräsident - nicht erfüllt. Jelzin und seine sogenannte Kreml-"Familie" (russisch: "Semja"), ein Zirkel von Einflüsterern um seine umtriebige Tochter Tatjana Djatschenko und den Oligarchen Boris Beresowski, hatte den loyalen Apparatschik im Mai 1999 als Vollstrecker ihrer Wünsche ins Amt gehievt. Doch dann entwickelte Stepaschin plötzlich seine eigenen Vorstellungen und sagte der Korruption und den Oligarchen den Kampf an, was die "Familie" so sehr alarmierte, dass sie ihn durch Wladimir Putin ersetzte - den bis dahin weithin unbekannten Chef des Inlandsgeheimdienstes FSB. Es war kein Zufall, dass Putins erste Amtshandlung als amtierender Präsident darin bestand, Jelzin per Dekret Immunität vor Strafverfolgung zu gewähren.

Ein weiterer Grund für die Entlassung Stepaschins waren dessen Überlegungen, den Nordkaukasus in die Unabhängigkeit von Russland zu entlassen, nachdem der Krieg in Tschetschenien im August 1999 erneut aufgeflammt war. Putin stand in diesem Konflikt hingegen für die Härte, die Jelzin schon im ersten Tschetschenienkrieg von 1994 bis 1996 gezeigt hatte. Noch am Neujahrstag 2000 flog der neue Präsident in die abtrünnige Republik, um seinen Soldaten in der von russischen Truppen gehaltenen Stadt Gudermes Medaillen zu verleihen. Die Zeremonie konnte als Auftakt von Putins Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen im März 2000 verstanden werden; die patriotischen Töne, die er anschlug, kamen im Volk gut an: "Hier geht es nicht nur um die Wiederherstellung der Ehre und Würde Russlands", sagte der neue Staatschef, "... sondern auch darum, das Auseinanderfallen der Russischen Föderation zu verhindern."

Der dritte Anspruch, den Jelzin an seinen Nachfolger stellte, bestand darin, die Transformation der sowjetischen Planwirtschaft in eine freie Marktwirtschaft nicht infrage zu stellen. Putin stand für diese Haltung, obwohl es gute Gründe gab, Jelzins neoliberale Wirtschaftspolitik in den Neunzigerjahren zu kritisieren. Die "Schocktherapie", mit der er die Sowjetwirtschaft nach dem Rat des US-Ökonomen Jeffrey Sachs von einem Tag auf den anderen durch die Freigabe von Preisen, Subventionsstreichungen und den Verkauf staatseigener Betriebe auf eine Marktwirtschaft umgestellt hatte, beschleunigte zunächst den Kollaps des alten Wirtschaftssystems und wirkte sich für viele Bürger fatal aus: Armut und Arbeitslosigkeit griffen in der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre um sich, die Lebenserwartung fiel dramatisch, und als im Mai 1998 Bergarbeiter die Transsibirische Eisenbahn blockierten, weil ihnen ihre Löhne ein ums andere Mal vorenthalten worden waren, bestand die Gefahr landesweiten sozialen Aufruhrs.

Rubelkrise als Wendepunkt

Gleichzeitig hatte eine kleine Gruppe von Oligarchen wie Roman Abramowitsch, Alexei Mordaschow oder Michail Chodorkowski unermessliche Reichtümer angehäuft, weil sie sich staatliche Betriebe im Rahmen korrupter Privatisierungen zu Preisen angeeignet hatten, die weit unter deren wahren Wert lagen.

Als ob die Lage nicht schon verfahren genug war, brach im August 1998 auch noch eine Finanzkrise aus, in deren Folge Russland eine Staatspleite hinlegte, der Rubel zwei Drittel seines Wertes verlor, die Armut immer drückender auf den Menschen lastete und die Löhne noch verspäteter (russisch: "Saderschki" für Verspätung) ausgezahlt wurden.

In dieser Krisensituation setzte die Duma durch, dass nicht Jelzins Wunschkandidat Wiktor Tschernomyrdin als Nachfolger des wegen der Rubelkrise gestürzten Ministerpräsidenten Sergej Kirijenko benannt wurde, sondern Außenminister Jewgeni Primakow.

Einmal im Amt setzte sich der frühere KGB-Chef mit einer dirigistischen Wirtschaftspolitik auffällig von Jelzin ab. Er bemühte sich um pünktliche Lohn- und Rentenauszahlungen und kündigte an, den Verkauf staatlicher Betriebe einzuschränken. Anfang 1999 brachte er sogar die Möglichkeit ins Spiel, bereits vollzogene Privatisierungen rückgängig zu machen, wenn sich erweisen sollte, dass sich Oligarchen unrechtmäßig an ihnen bereichert hätten. Beim darbenden Volk kamen die Maßnahmen und Primakows rhetorische Spitzen gegen die Oligarchen so gut an, dass Jelzin um seine Pioniertat - den Umbau der sowjetischen Kommandowirtschaft zu einer Marktwirtschaft - fürchten musste, sollte Primakow bei der Präsidentschaftswahl 2000 erfolgreich antreten.

Primakows Amtszeit als Ministerpräsident dauerte schließlich nur einige Monate, Jelzin schasste ihn im Mai 1999 bei der erstbesten Gelegenheit. Doch auch Putin als Präsident orientierte sich teilweise an der Wirtschaftspolitik seines Vorvorgängers im Amt des Ministerpräsidenten. Denn Primakows Popularität war ein deutlicher Beleg dafür, dass die Zeit für eine neue Wirtschaftspolitik reif war. Nach der wirtschaftlichen Katastrophe der Rubelkrise von 1998 war klar, dass es mit der korrupten, wilden und weitgehend unregulierten Marktwirtschaft der Jelzin-Jahre nicht einfach weitergehen konnte. Ein gewisses Maß an staatlicher Aufsicht und Einflussnahme erschien der neuen Staatsführung unabdingbar, besonders in strategisch wichtigen Branchen wie der Öl- und Gasindustrie.

Und Putin handelte: Einstmals private Ölkonzerne wie Jukos und Baschneft gerieten im Laufe seiner mittlerweile 16-jährigen Präsidentschaft in den Besitz des staatlichen Ölkonzerns Rosneft - in beiden Fällen dadurch, dass die Justiz instrumentalisiert wurde, um strafrechtlich gegen die Alteigentümer Michail Chodorkowski und Wladimir Jewtuschenkow vorzugehen.

Auch gegen Oligarchen wie Boris Beresowski und Wladimir Gussinski, die sich bei Boris Jelzin noch in die Politik eingemischt hatten, ging der Kreml rabiat vor, indem er sie mit strafrechtlichen Verfahren überzog und aus dem Land vertrieb. Zudem kündigte Putin an, die postsowjetische Plutokratie insgesamt auszulöschen.

Doch dieses Versprechen gegenüber der Bevölkerung wurde in Wahrheit nie eingelöst - im Gegenteil: Schafften es im Jahr 1997 gerade einmal vier Russen ins Forbes-Milliardärsranking, so waren es 2004 nach Putins erster Amtszeit 36. Nach neuesten Zahlen sind es inzwischen 96. Und während der Staat in einigen Branchen eine wichtigere Rolle für sich reklamierte, zog er sich in anderen Wirtschaftszweigen zurück, indem er etwa weitere Staatsunternehmen privatisierte, darunter sogar Wohnbauunternehmen sowie Bildungseinrichtungen.

De facto bedeutete das, dass Putins Wirtschaftspolitik in den frühen Jahren seiner Präsidentschaft ideologisch gespalten war - zwischen einer staatsdirigistischen und anti-oligarchischen Haltung à la Primakow und der pro-westlichen und marktfreundlichen Grundposition Jelzins.

Vergangene Erfolge sichern bis heute Putins Popularität

Durch die Konsolidierung der staatlichen Institutionen und vor allem dank eines rapide steigenden Ölpreises schaffte es Putin in den ersten Jahren seiner Präsidentschaft allerdings, den Lebensstandard vieler Russen deutlich zu steigern. Bis zum Ende seiner zweiten Amtszeit wuchs das russische Bruttoinlandsprodukt pro Jahr um sieben Prozent. Dank den hohen Erlösen aus dem Rohstoffexport gelang es dem Land in dieser Zeit zudem, den Staatshaushalt auszugleichen und beachtliche Währungsreserven anzusammeln. Es sind diese Erfolge, denen Putin bis heute seine nach wie vor hohe Popularität verdankt.

Dieser positiven Entwicklung stehen bis heute aber zahlreiche ungelöste strukturelle und institutionelle Probleme gegenüber: Investitionen bedeuten oft hohes Risiko, denn Eigentumsrechte sind nicht immer sicher. Konkurrenten werden mitunter mit rabiaten Methoden aus dem Markt gedrängt - oft genug geschieht das unter Ausnutzung korrupter Verbindungen in die örtliche Politik. Da kommt schnell mal die Gewerbeaufsicht, um unter einem Vorwand den Laden zu schließen. "Sschiratj" nennen die Russen das lakonisch. Heißt übersetzt: "Er wurde gefressen." In Wladimir Putins Russland gilt nicht selten das Recht des Stärkeren.

Unter diesen Voraussetzungen ist es nicht verwunderlich, dass es das Land bislang nicht geschafft hat, sich aus seiner Abhängigkeit von Rohöl und Gas zu befreien, indem es etwa einen industriellen Sektor aufbaut, der international wettbewerbsfähig ist. In der Weltfinanzkrise 2008 und in Folge der Sanktionen wegen der Ukraine-Krise 2014 bekamen das die Russen deutlich zu spüren. Die Wirtschaft glitt in Rezessionen ab und kommt seither nicht mehr richtig auf die Beine. Wenn Putin sein Ziel erreichen will, das Land unter die fünf größten Volkswirtschaften der Welt zu führen, braucht er deutlich höhere Wachstumsraten als die derzeitigen ein bis zwei Prozent pro Jahr.

Vier Jahre bleiben ihm dafür noch, dann endet seine insgesamt vierte Amtszeit als Präsident. Doch vielleicht findet Putin ja einen Nachfolger, der sein Werk ebenso fortführt, wie er es für Jelzin tat.

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