Psychologie:Was einen Terroranschlag von einem Amoklauf unterscheidet

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Einschusslöcher in der Scheibe eines Autohauses. Hier endete 2009 der Amoklauf von Winnenden, bei dem ein 17-Jähriger 15 Menschen tötete. (Foto: dpa)

Wenn ein Muslim Zivilisten ermordet oder verletzt und dabei "Allahu Akbar" ruft, dann ist er Terrorist. Oder vielleicht schwer gestört? So ganz einfach lässt sich das nicht unterscheiden.

Analyse von Markus C. Schulte von Drach

Terroranschlag oder Amoklauf, Massenmord, School Shooting, Attentat, Anschlag oder Rache - die Ereignisse der vergangenen Tage zeigen, wie schwierig es inzwischen ist, die richtigen Begriffe für verschiedene Taten zu finden.

Als eine Gruppe von Al-Qaida-Mitgliedern 2001 vier Passagierflugzeuge entführte und in die Türme des World Trade Centers und ins Pentagon steuerte - eine weitere Maschine stürzte in Pennsylvania ab -, war die Sache klar: Terror. Genauso war es bei fast allen großen Anschlägen davor und für lange Zeit danach. In der Regel standen dahinter Mitglieder von organisierten Gruppen mit einer extremistischen politischen oder religiösen Agenda.

Schwieriger wird es dagegen, wenn einzelne Personen, die nicht Mitglieder einer Terrororganisation oder -gruppe zu sein scheinen (sogenannte Lone Actors oder Lone Wolves), Anschläge oder Attentate verüben. Die französischen Behörden etwa haben nur vage Verbindungen zwischen dem Massenmörder von Nizza, Mohamed Lahouaiej Bouhlel, und dem sogenannten "Islamischen Staat" gefunden. Der 32-Jährige war offenbar labil, aggressiv, eine gestörte Persönlichkeit. Er hatte sich innerhalb kurzer Zeit radikalisiert und wurde von der Terrororganisation erst im Nachhinein als "Soldat des Islamischen Staates" bezeichnet.

Anders als etwa die Al-Qaida-Terroristen oder viele IS-Kämpfer war er in keinem "Ausbildungslager" militärisch oder ideologisch geschult worden. Dass er allerdings bei der Vorbereitung und Ausübung seiner Tat Helfer gehabt haben soll - einige Personen wurden in Frankreich unter diesem Verdacht festgenommen - spricht wieder eher für einen Terroranschlag als für eine Amokfahrt.

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Sein Asylantrag war abgelehnt worden, er war in psychiatrischer Behandlung und der Polizei bekannt. Was wir über den Täter Mohammad D. wissen - und was nicht.

Bei dem Angriff eines 17-jährigen Afghanen, der vergangene Woche in einem Regionalzug bei Würzburg etliche Menschen mit einer Axt und einem Messer verletzt hat, gehen die Ermittler zwar von einer politisch motivierten Tat aus. In einem nach dem Tod des Jugendlichen veröffentlichten Video bezeichnete er sich selbst als "Soldat" des IS, der Ungläubige töten wollte. In seinem Zimmer wurde eine von ihm selbst gemalte IS-Flagge gefunden. Es gibt jedoch keine Erkenntnisse darüber, dass er Mitglied einer Terrorgruppe war. Offenbar hatte er sich in kürzester Zeit radikalisiert; eine Rolle gespielt hat möglicherweise die Nachricht vom Tod eines Freundes in Afghanistan, für den er sich irgendwie rächen wollte. Bundesinnenminister Thomas de Maizièr sprach von einem Anschlag "zwischen Amoklauf und Terror".

Auch bei dem 27 Jahre alten Flüchtling aus Syrien, der jetzt in Ansbach einen Selbstmordanschlag verübt hat, ist die Lage ähnlich. Der Mann hatte bereits zweimal versucht, sich das Leben zu nehmen und war zwischenzeitig in einer psychiatrischen Klinik untergebracht. Auf einem seiner Handys wurde inzwischen eine Anschlagsdrohung gefunden. Darin drohte der Täter den Deutschen mit Rache, weil diese Muslime umbrächten. Auch hier erklärte de Maizière, es könne eine Kombination aus Amok und Terror sein.

Die Definition von Terror ist nicht ganz klar, denn der Begriff wird für ganz verschiedene Verbrechen verwendet: von Anschlägen auf Zivilisten mittels Bomben oder anderen Waffen bis zu Attentaten auf Politiker, der Vergiftung von Lebensmitteln im Supermarkt oder die Zerstörung von Gebäuden. Auch Gegner in bewaffneten Auseinandersetzungen werden mitunter als Terroristen bezeichnet. So haben Politiker der Regierung in Kiew wiederholt die prorussischen Separatisten im Osten der Ukraine Terroristen genannt.

Im Gegensatz zu anderen Kriminellen sind Terroristen politisch-ideologisch oder politisch-religiös motiviert, Mitglied einer Organisation oder konspirativen Zelle oder fühlen sich einer solchen zumindest verbunden.

Ursprünglich wurde die Gewalt des Regimes der Revolutionäre in Frankreich nach 1789, das ihre Gegner einschüchtern sollte, als Terror bezeichnet - als régime de terreur. Hundert Jahre später galten Attentäter wie jene, die 1881 den russischen Zaren ermordeten als Terroristen. Im 20. Jahrhundert wurden Gruppen wie die irische IRA als Terrororganisationen betrachtet, die sich selbst als Guerillaorganisationen und Freiheitskämpfer sahen.

Die Rote Armee Fraktion (RAF) in Deutschland wollte mit ihren - immer noch relativ gezielten - Anschlägen auf Vertreter von Politik und Wirtschaft dagegen noch etwas anderes erreichen: Der Staat sollte zu massiven Gegenmaßnahmen provoziert werden, die die Gesellschaft gegen ihre politische Führung aufbringen sollten.

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Seit Anschläge sich jedoch zunehmend auch gezielt gegen Zivilisten richten, etwa durch Bomben in Passagierflugzeugen oder in zivilen Gebäuden wie Bahnhöfen, Kinos, Kaufhäusern, Gotteshäusern, Ferienanlagen, Abtreibungskliniken oder bei Volksfesten gibt es eine neue Definition. Terrorismus ist alles, was das Ziel hat, eine Zivilbevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen, sie einzuschüchtern und die Politik zu nötigen, auf die politischen, religiösen oder ideologischen Ziele der Terroristen einzugehen.

Während bis zum 11. September 2001 Terroranschläge relativ häufig durch links- und rechtsextreme Gruppen, Separatisten wie die Eta, irische oder palästinensische "Freiheitskämpfer" verübt wurden, sind die meisten Täter heute religiös-islamistisch motiviert. Terroranschläge im Westen rechtfertigen sie in der Regel zum einen mit der Behauptung, sie würden sich gegen die Unterdrückung der muslimischen Welt durch die Ungläubigen wehren. Zum anderen zielen sie darauf, die Islamfeindlichkeit zu schüren und so weitere Muslime auf ihre Seite zu ziehen. Das weltweit bei weitem häufigste Ziel islamistischer Terroristen sind allerdings Gläubige jeweils anderer muslimischer Glaubensrichtungen.

Die Definition von Amok ist auf den ersten Blick relativ klar. Nach heutigem Wissensstand sind die Täter, die als Amokläufer bezeichnet werden, in der Regel psychisch schwer gestört, manchmal geisteskrank. Da die Täter meist getötet werden, sind entsprechende Untersuchungen nicht häufig, die Datenlage ist dünn. Es gibt aber Hinweise darauf, dass viele Amokläufer unter Störungen wie Narzissmus, Paranoia oder Borderline gelitten haben.

Mit einer zunehmenden psychosozialen Entwurzelung mit realen oder wahrgenommenen sozialen Spannungen und Demütigungen entwickeln sie das aus ihrer Sicht gerechtfertigte Bedürfnis, sich gegen bestimmte Menschen oder auch die Gesellschaft insgesamt zu wehren oder sich zu rächen. Die Taten können längerfristig geplant oder spontan sein, je nach Persönlichkeit und Auslösern. Amokläufe beginnen deshalb häufig im engen sozialen Umfeld oder finden am (ehemaligen) Arbeitsplatz statt.

Eine besondere Form des Amoklaufs sind Massenmorde an Schulen ( School Shootings), wie es sie in Deutschland, den USA und anderen Ländern in den vergangenen Jahrzehnten relativ häufig gab. Bei den Tätern handelt es sich in der Regel um Schüler oder ehemalige Schüler, auf die die Beschreibung von Amokläufern passt. Ungewöhnlich ist hier natürlich, dass es sich bei den Tätern und bei vielen Opfern um Jugendliche oder sehr junge Erwachsene handelt.

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Experten können kein klares Profil für Amokläufer erstellen. Die größte Übereinstimmung besteht darin, dass die Täter sich in der Regel von ihrem Umfeld oder der Gesellschaft ausgeschlossen, schikaniert, erniedrigt gefühlt hatten - unabhängig davon, ob dies tatsächlich der Fall war oder nicht. Solche Gefühle führen aber gemeinhin noch nicht zu Gewaltausbrüchen, so dass individuell weitere wichtige Faktoren wie geistige Störungen oder Krankheiten hinzukommen müssen.

Nach allem was derzeit bekannt ist, erfüllt David S., der in München neun Menschen und dann sich selbst erschossen hat, klar die Kriterien eines Amokläufers.

Polizisten bergen eines der Opfer des Amoklaufs an der Albertville-Realschule in Winnenden am 11. März 2009. Ein 17-Jähriger hatte hier und in der Umgebung 15 Menschen erschossen, bevor er sich selbst tötete. (Foto: Reuters)

2014 fuhr in der französischen Stadt Dijon ein 40-jähriger Mann mit einem Auto mehrmals in Fußgängergruppen hinein und verletzte insgesamt 13 Passanten. Dass er dabei "Allahu Akbar" rief, legte den Verdacht nahe, es handle sich um einen Terroranschlag.

Als Mohamed Lahouaiej Bouhlel am 14.Juli mit einem Lastwagen in Nizza 84 Fußgänger tötete, wurde ebenfalls schnell vermutet, er sei ein Terrorist.

In Dijon kam die Staatsanwaltschaft allerdings relativ schnell zu dem Schluss, der Täter sei kein Terrorist, sondern ein psychisch schwer kranker Amokläufer. Beim Attentäter von Nizza scheint es sich tatsächlich um einen Terroristen gehandelt zu haben.

Dass es inzwischen manchmal schwierig ist, zwischen muslimischen Amokläufern und islamistischen Terroristen zu unterscheiden, rührt daher, dass der Islamische Staat seine Strategie im Kampf gegen die "Ungläubigen" ausgeweitet hat: Dort, wo die Terrororganisation Anschläge planen und organisieren kann, tut sie es. Ihre Führer haben aber auch erkannt, dass es die Möglichkeit gibt, Anhänger aus der Distanz zu Anschlägen zu bewegen.

Bereits 2014 hat ihr Sprecher Muhammad al-Adnani die Anhänger im Westen dazu aufgerufen, überall und mit allen Mitteln "Ungläubige" zu töten. Jeder Einzelne sollte dem Gegner "den Kopf mit einem Stein zerschlagen, ihn mit einem Messer schlachten oder ihn mit einem Auto überfahren oder aus der Höhe herabwerfen, ihn ersticken oder vergiften".

Darüber hinaus macht die Terrororganisation intensiv Propaganda in den globalen sozialen Netzwerken. Mit Erfolg, wie etwa die große Zahl von jungen Menschen zeigt, die aus dem Westen nach Syrien gezogen sind, um dort für den IS zu kämpfen. Dass die meisten dieser Extremisten nur wenig über den Islam und die Ideologie des IS wissen, ist dessen Führern völlig egal. Ihr Kampf und ihre Anschläge nutzen schließlich den Zielen des IS.

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Mehrmals ist es inzwischen zu Terroranschlägen gekommen, bei denen die Täter sich in ihrer westlichen Heimat radikalisiert haben und dann dort ihre Verbrechen im Namen des "Islamischen Staates" verübten. Der US-Bürger Omar Mateen etwa, der im Juni in einem Nachtclub in Orlando, Florida, 49 Menschen erschoss, hatte keine unmittelbare Verbindung zum IS, sondern erklärte erst während seines Anschlags dem selbst ernannten Kalifen des IS seine Treue. Ermittlungen nach seinem Tod ergaben Hinweise darauf, dass er unter psychischen Problemen litt, Minderheiten wie Homosexuelle, Juden und Latinos hasste und davon sprach, zu töten.

War Mateen demnach möglicherweise ein gestörter Mensch, der letztlich in der Propaganda der islamistischen Terroristen eine Legitimation dafür fand, seinen Hass mit tödlicher Gewalt auszuleben? Gilt das möglicherweise auch für die Täter von Würzburg und Ansbach?

Es gibt Hinweise darauf, dass im Westen vor allem frustrierte junge Menschen mit schweren Problemen etwa bei der Identitätsfindung anfällig sind für die Propaganda des "Islamischen Staates" und anderer Terrororganisationen. Im Unterschied zu den tatsächlich ideologisch motivierten Terroristen, mit denen die Welt es früher vor allem zu tun hatte, ähneln manche von ihnen heute offenbar eher Amokläufern, die ihre Tat nur zusätzlich mit einer Ideologie rechtfertigen.

Die Frage nach dem geistigen Zustand von Terroristen stellt sich natürlich nicht nur bei Muslimen. So rechtfertigte der Rechtsextreme Anders Behring Breivik, der 2011 in Norwegen 77 Menschen tötete, sein Verbrechen zwar vordergründig politisch. Seine Selbstwahrnehmung und die Einschätzung der Verhältnisse in Europa waren allerdings stark verzerrt, wie ein von ihm verfasstes 1000 Seiten dickes "Manifest" klar belegt. Ein erstes Gutachten bescheinigte ihm eine paranoide Schizophrenie, ein zweites widersprach, kam aber zu dem Schluss, Breivik leide an einer Persönlichkeitsstörung. Die Staatsanwaltschaft ging von Unzurechnungsfähigkeit aus. Das Gericht verurteilte Breivik trotzdem wegen Mordes. Breivik hat einen Terroranschlag verübt und politisch begründet. Aber hätte er als geistig gesunder Mensch genauso gehandelt?

Bei dem Text handelt es sich um eine der aktuellen Entwicklung angepasste Fassung eines Artikels vom 19.7.2016.

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