Psychische Leiden im Ersten Weltkrieg:Vom Schlachtfeld in die Hölle der Nervenärzte

Schlacht von Verdun, 1916 Erster Weltkrieg

Deutsche Soldaten im Jahre 1916 während der Schlacht von Verdun; auf dem von Rauchschwaden eingehüllten Hügel im Hintergrund liegt das Fort Douaumont.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Ohne sichtbare Wunden und doch zutiefst verletzt kehrten viele Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg zurück. Sie litten unter Symptomen wie dem "Kriegszittern". Es war die Geburtsstunde der Forschung zur Posttraumatischen Belastungsstörung. Damals aber hielten viele Ärzte die Betroffenen für "hysterische" Feiglinge.

Von Milena Fee Hassenkamp

Im Ersten Weltkrieg kamen eine Reihe völlig neuer Kriegstechnologien zum Einsatz. Das Maschinengewehr wurde zu einer der wichtigsten Waffen auf dem Schlachtfeld, erstmals wurde Giftgas eingesetzt, Flugzeuge brachten den Tod aus der Luft und Artillerie wurde in einem Ausmaß eingesetzt, das sich ganze Landstriche in eine immer wieder aufs neue verheerte Einöde verwandelten.

Nachdem an der Westfront aus dem Bewegungskrieg rasch ein Stellungskrieg mit kilometerlangen Verteidigungslinien geworden war, lagen sich über lange Zeit so viele feindliche Soldaten gegenüber wie nie zuvor. Die Grabenkämpfe, in denen die Soldaten die meiste Zeit dem Feuer eines unsichtbaren Gegners ausgesetzt waren, gegen den sie sich kaum wehren konnten, verursachten nicht nur physische Verletzungen. Auch auf die Seele vieler Soldaten hatte dieser Krieg traumatische Auswirkungen: Sie kehrten mit schweren Neurosen von der Front zurück.

Neu war das Phänomen, dass Soldaten nach Kämpfen psychische Folgen zeigten, nicht. Erwähnt wurden "dementia" - also Geisteskrankheiten - als Folge von Kriegen schon von dem niederländischen Humanisten Erasmus von Rotterdam im 16. Jahrhundert. Während des Amerikanischen Bürgerkriegs 1861 bis 1865 hatten Ärzte dann beobachtet, dass manche Soldaten mit Symptomen aus den Kämpfen zurückkehrten, die sie an Herzkrankheiten erinnerten: Die Betroffenen litten unter Herzklopfen, Schmerzen in der Brust und Schweißausbrüchen, sie waren müde und kurzatmig. "Soldier's Heart" war deshalb der umgangssprachliche Name des Leidens, das Ärzte Cardiophobie nennen. Heute wird angenommen, dass es eine psychosomatische Angstsstörung ist.

1899 hatte dann der berühmte deutsche Psychiater Emil Kraepellin Symptome, unter denen die Opfer schwerer Unfälle litten, als "Schreckneurose" zusammengefasst. Es war eine der frühesten Beschreibungen von Leiden, die heute unter die Posttraumatische Belastungsstörung fallen.

Die Symptome aber, die bei etlichen Teilnehmern des Ersten Weltkriegs auftraten, waren bisher noch nicht beobachtet worden.

Für die Militärs ein Zeichen von Verweichlichung

Es war die Geburtsstunde der Diagnose des "Shell Shock", zu Deutsch "Kriegszittern" oder "Granatfieber". Erstmalig beschrieben wurde es von dem Psychologen Charles S. Myers. Der Brite untersuchte im Jahre 1915 Soldaten, die extreme physische Symptome zeigten, für die keine organischen Ursachen identifiziert werden konnten.

Die Patienten litten unter unkontrolliertem Zittern, manche unter einer sogenannten "hysterischen" Blindheit oder Taubheit, einige verloren ihre Sprache. Die Ärzte beobachteten, dass Betroffene auf ein bestimmtes Stichwort (wie zum Beispiel das Wort "Bombe") oder auf Gegenstände mit panischem Entsetzen reagierten. Einige waren partiell gelähmt, konnten nicht mehr selbständig essen. Myers deutete diese Symptome schnell als psychosomatisch und bezeichnete sie mit dem Terminus "Shell Schock", weil es einen Zusammenhang mit der Explosion von Granaten zu stehen schien, die in der Nähe der Soldaten eingeschlagen waren.

Bereits nach sechs Monaten Krieg litt eine so große Anzahl von Soldaten unter der Erkrankung, dass die Armeeführungen sich gezwungen sahen, irgendwie damit umzugehen. Allerdings fiel es den Militärs schwer, die seelischen Verletzungen als echte Wunden anzuerkennen. Solche Traumata liefen dem Gedanken zuwider, dass Soldaten gelernt haben, Kämpfe auszuhalten. Und Sigmund Freud hatte 1895 in den "Studien zur Hysterie" körperliche Reaktionen auf nicht sichtbare oder unterdrückte Traumata als weibliche Neurose beschrieben.

Der "Shell Shock" erschien den Militärs als Verweichlichung, als "männliche Hysterie", die mit allen Mitteln ausgetrieben werden musste.

Hetzjagd auf angebliche Feiglinge

Zudem kam der Verdacht auf, dass die Symptome, wenn keine erkennbaren Verletzungen vorlagen, von Soldaten unbewusst oder sogar bewusst und gezielt erzeugt wurden, um dem Horror der Front zu entgehen.

Ein Verfechter dieses Gedankens war in Deutschland der Psychiater und Neurologe Karl Bonhoeffer. Ihm zufolge war es schwierig, zwischen Hysterie und Simulation zu unterscheiden. Und manche Nervenärzte und Psychiater begannen nun, in einer Zeit, in der die Psychiatrie erst langsam an Aufmerksamkeit und Reputation gewann, auf eine regelrechte Hetzjagd auf angebliche Simulanten und Feiglinge in den Militärkrankenhäusern zu gehen. Die Ärzte, die sich von der Armeeführung zu Detektiven auf der Spur von Fahnenflucht und unterstellter Willensschwäche machen ließen, waren für die Patienten so eher Feinde als Helfer.

Die Behandlung in mancher Klinik diente nun dem Ziel, mangelnden Patriotismus auszutreiben, um die Patienten funktionstüchtig zu machen und sie schnell wieder an die Front zurückzuschicken. Das Leiden wurde kriminalisiert, um andere davon abzuhalten, es vorzutäuschen. Und viele Soldaten, die zu Feiglingen erklärt wurden, wurden verurteilt und standrechtlich erschossen.

Heilmethode Todesangst

Doch auch dort, wo die Soldaten tatsächlich als Kranke wahrgenommen wurden, hatte der Schrecken für sie häufig kein Ende. So setzten manche Therapien, wie sie etwa der deutsche Neurologe Max Nonne anwendete, darauf, den Patienten wie ein trotziges Kind zu behandeln, das nicht gesund werden will. Besonders grausam mutet zum Beispiel eine Therapie funktioneller Aphasien (Sprachlosigkeiten) an, die der Essener Neurologe Otto Muck erfand und praktizierte. Mit einer Kehlkopfsonde erzeugte er künstlich Erstickungsangst beim Patienten und brachte ihn so dazu, aus Todesangst zu schreien. In diesem Zustand wurde der Patient aufgefordert zu sprechen - was tatsächlich oft gelang, die Methode aber ethisch nicht weniger verwerflich machte.

Bei den Elektroschocktherapien mussten die Patienten teilweise stundenlang Schmerzen ertragen, die nicht nur lokal, sondern auch großflächig am ganzen Körper mit Strom ausgelöst wurden. Die damals sehr beliebte Kaufmann-Methode, bei der kräftige Wechselströme in steigenden Intervallen über längere Zeit durch den Körper geleitet wurden, versuchte die Heilung häufig in einer einzigen Behandlungseinheit zu erzwingen - und nahm dabei auch Todesopfer in Kauf.

Horror vor dem Weiterkämpfen

Dass aber auch ein ganz anderer Umgang mit den Patienten möglich war, zeigte der Psychologe William H. Rivers. Der Brite behandelte zwischen 1915 und 1917 Offiziere der britischen Armee in einem Militärkrankenhaus. Dabei fand er heraus, dass ein großer Zusammenhang bestand zwischen den Neurosen mit ihren Symptomen wie dem Kriegszittern und der mangelnden Vorbereitung der Soldaten auf den Stress, dem sie im Krieg ausgesetzt sein würden. Die Neurosen waren für ihn die Folgen des Zwangs, weiterkämpfen zu müssen trotz einer unbezwingbaren Angst. Dies hätte sich in den physischen Symptomen ausgedrückt.

Während andere Ärzte brutale Methoden wie Elektroschockbehandlung und Röntgenbestrahlung, Isolation und Drohungen anwandten, um Kranke von ihrer Gesundheit zu "überzeugen" und praktisch ihren Selbsterhaltungswillen zu brechen, setzte Rivers auf sanfte Methoden.

Er konfrontierte seine Patienten im Gespräch mit ihren Erfahrungen, damit sie sie akzeptieren und bewältigen konnten. Traumanalyse, psychoanalytische "Redekur" und Hypnose waren Methoden mit denen die Patienten behandelt wurden.

Es war eine wichtige Phase für Psychiatrie, Psychologie und Neurologie, deren Experten sich in dieser Zeit mit kaum etwas anderem als den Kriegsfolgen beschäftigten. Der Krieg stellte ihnen mit den psychisch verwundeten Soldaten eine riesige Zahl von Versuchspersonen zur Verfügung. Etwa 200.000 "Shell-Shock"-Opfer brachte der Erste Weltkrieg hervor, von denen etwa 15.000 auch drei Jahre nach Kriegsende noch die Krankenhäuser füllten. Viele waren für ihr Leben traumatisiert.

Doch obwohl die Psychiater und Nervenärzte sich weiterhin mit dem Phänomen seelischer Kriegstraumata beschäftigten, dauerte es lange, bis die Leiden als Störungen und Krankheiten wirklich ernst genommen wurden. Erst als die Symptome bei Soldaten im Zweiten Weltkrieg, im Korea- und vor allem im Vietnamkrieg erneut auftraten, begannen die Fachleute mit systematischen Untersuchungen. 1980 schließlich wurde das Posttraumatische Stresssyndrom bzw. die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS, im Englischen PTSD) endlich offiziell in den Internationalen Katalog der Krankheiten (ICD) aufgenommen.

Bis heute belastet es manche betroffenen Soldaten zusätzlich, dass sie sich wie Versager vorkommen. Dabei hatte, wie die Psychiaterin Judith Herman von der Harvard University schreibt, schon William H. Rivers Anfang des 20. Jahrhunderts gezeigt, das auch "Männer, deren Mut über alle Zweifel erhaben ist, überwältigender Angst erliegen können".

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