Die Frau neben ihr hatte ein Messer, da war sie sich ganz sicher. Also schrie sie, schlug wild um sich, sie hatte höllische Angst. In ihrer Psychose entging ihr, dass es nur eine Patientin war, die da im Klinikflur stand, ohne Waffe, ohne Messer. Schon stürmten die Pfleger auf sie zu. So oder ganz ähnlich beginnen die Protokolle, die Patienten auf der Homepage des Bundesverbands Psychiatrie-Erfahrener festgehalten haben. Die Berichte handeln von Angst, Panik, Wahn - und sie alle enden in einer gemeinsamen Erfahrung: der Fixierung.
Mehrere Pfleger zwangen sie nieder, schreibt die Patientin weiter, hoben sie in ein Bett und zurrten sie fest an Armen und Beinen. "Ich fühlte mich wie ein abgeschlachtetes Vieh", beschreibt sie das Gefühl während der Fixierung. Der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener hätte am liebsten ein komplettes Verbot aller Zwangsmaßnahmen gesehen, so weit wollte das Bundesverfassungsgericht nicht gehen. Dennoch hat das Urteil, das am Dienstag in Karlsruhe gesprochen wurde, große Auswirkungen: In Zukunft müssen Richter darüber entscheiden, ob Patienten für eine längere Zeit ans Bett gefesselt werden dürfen oder nicht. Diese Entscheidung stärkt die Rechte von psychisch Kranken, gleichzeitig wird sie im Arbeitsalltag von Ärzten und Pflegern einiges ändern.
Vonseiten der Psychiater kam gleich nach dem Urteil fast einhellig die Antwort: Es ist gut so. "Wir wollen auf keinen Fall, dass auch nur der kleinste Verdacht besteht, dass die Psychiatrie ein rechtsfreier Raum ist", sagt Tilman Steinert. Er ist Psychiater im württembergischen Weissenau. "Das Urteil ist gut, es ist entlastend und schafft Rechtssicherheit für Patienten, aber auch für Ärzte und Pflegekräfte." Auch Arno Deister, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) ist seiner Meinung: "Wir haben uns das so vorgestellt."
Allerdings werde infolge des Urteils auf die psychiatrischen Kliniken "eine Menge zukommen", sagt Deister. Wenn eine Person ans Bett gegurtet ist, muss künftig während der gesamten Zeit eine Pflegekraft oder ein Arzt an der Seite des Patienten sein. In vielen Einrichtungen ist diese sogenannte Eins-zu-eins-Betreuung schon gängige Praxis, Standard sei sie aber noch nicht, so Deister. Dafür brauche man mehr Pflegepersonal, das derzeit schwer zu finden sei.
Dazu kommt, dass Richter in Zukunft täglich von 6 Uhr bis 21 Uhr erreichbar sein müssen, um die Anordnung einer Fixierung zu überprüfen. "Täglich heißt täglich", sagt Deister. "Das bedeutet, dass auch auf Klinikseite sonntags morgens um sechs Uhr genügend Personal mit Fachkompetenz für Nachfragen der Richter da sein muss." Alles in allem bedeute das Urteil einen nicht unerheblichen Personalmehraufwand, den man erst einmal stemmen und auch finanzieren müsse.
Urban Hansen arbeitet als Chefarzt in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Friedrichshafen. Auch er hat seine Zweifel, ob die Entscheidung aus Karlsruhe so einfach in die Praxis umsetzbar ist. Was passiert zum Beispiel, wenn ein Richter nicht ans Telefon geht? Ist dann das Gericht schuld oder die Klinik?
Viele Fragen sind noch offen, und die meisten werden wohl erst beantwortet werden können, wenn die neuen Maßnahmen auch wirklich in den Kliniken zum Einsatz kommen. Schon jetzt gibt es aber erste Einschätzungen, wie das Urteil den Umgang mit psychisch Kranken in Extremsituationen allgemein verändern könnte. Tilman Steinert vermutet, dass weniger oft fixiert wird, dafür aber häufiger isoliert werden könnte - Isolierungen stehen nicht unter richterlichem Vorbehalt, sind oft aber nicht weniger drastisch. Patienten werden dabei in einen Raum gebracht, in dem sie sich frei bewegen, aber nicht verletzen können.
Arno Deister kann sich eher vorstellen, dass in den Kliniken noch häufiger alternative Maßnahmen angewendet werden. "Ich glaube, dass man sich dann mehr um deeskalierende Maßnahmen bemüht", sagt er. Das könnte den zusätzlichen bürokratischen und personellen Aufwand erübrigen, den Fixierungen künftig mit sich bringen. Pünktlich zum Urteil hat die DGPPN auch eine Leitlinie veröffentlicht, wie Zwangsmaßnahmen schon im Voraus verhütet werden können. Durch kleine Interventionen etwa, wie eine Runde mit einem Pfleger ums Haus zu laufen. Auch grundsätzliche Veränderungen wie eine Architektur mit großen, hellen Räumen könnten Situationen entschärfen.
"Aber auch dafür brauchen wir mehr Personal", sagt Arno Deister, der Präsident der DGPPN. Hier müsse endlich ein Umdenken einsetzen, um den Zwang in Kliniken zumindest auf ein Minimum zu reduzieren. "Eine Fixierung muss das letzte Mittel bleiben."