Psychiater Urban Hansen:"Wenn alles andere scheitert"

Urban Hansen

Urban Hansen, 41, ist seit zwei Jahren Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bodensee in Friedrichshafen. Fixierungen empfindet er als persönlich belastend, sie gehören zu den Schattenseiten seines Berufs.

(Foto: privat)

Der Chefarzt einer psychiatri­schen Klinik über die Not­wen­digkeit von Fixierung­en.

Interview von Michaela Schwinn

SZ: Wie sieht eine Fixierung bei Ihnen in der Psychiatrie konkret aus?

Urban Hansen: Ich erinnere mich noch gut an einen Fall, bei dem ein junger Mann von der Polizei zu uns in die Klinik gebracht wurde. Am Bahnhof hatte er aus heiterem Himmel auf eine Passantin eingeschlagen. Er redete wirr und schlug um sich, wir konnten ihn überhaupt nicht erreichen. Schließlich mussten wir ihn fixieren. In der Regel sind es also Fälle, in denen Patienten sich selbst oder andere gefährden könnten. Am nächsten Morgen war er wieder völlig klar im Kopf und hat uns erzählt, dass er Legal Highs, eine sogenannte Kräutermischung, konsumiert hatte. Das ist ein typischer Fall, denn meistens finden Fixierungen am Anfang einer Behandlung statt und nicht erst, wenn die Patienten schon länger in der Klinik sind.

Aber es gibt auch Fälle während der Klinikbehandlung?

Ja, nur seltener. Es ist noch nicht so lange her, dass ein Patient mit paranoiden Wahnvorstellungen plötzlich einen Stuhl hochhob und damit auf eine Eingangstüre der Station einschlug. Er ließ sich nicht beruhigen und wurde nur noch aggressiver, als wir ihm den Stuhl wegnahmen. Auch hier endete es in einer Fixierung.

Das klingt gefährlich. Geht man als Mitarbeiter einer psychiatrischen Klinik ein Risiko ein?

Es gibt schon Situationen, in denen erregte Patienten schlagen, spucken, treten oder beißen. Unsere Mitarbeiter haben keine Nahkampfausbildung, sie müssen sich schnell Verstärkung holen. Aber solche Situationen sind eher selten. Meistens lassen sich aufgebrachte Patienten mit deeskalierenden Methoden beruhigen. Die Fixierung ist Ultima Ratio, sie wird erst eingesetzt, wenn alles andere scheitert.

Wie sehen solche deeskalierenden Methoden aus?

Zu allererst sprechen wir den Patienten an, wir wollen herausfinden, was ihn erregt. Dann folgen ganz individuelle Maßnahmen. Manchmal hilft es schon, mit dem Patienten eine Zigarette zu rauchen. Oder zusammen eine Runde um die Klinik zu laufen. Manchmal haben Kleinigkeiten eine große Wirkung.

Und das funktioniert auch bei einem Patienten, der gerade mit einem Stuhl auf eine Türe eindrischt?

Das klappt tatsächlich oft, auch bei sehr erregten, aggressiven Patienten. Aber es spielen viele Faktoren zusammen. Ganz wichtig ist zum Beispiel, wie viele Mitarbeiter auf der Station sind. Wenn mehr Personal vorhanden ist, können wir schneller erkennen, wenn ein Patient in einen Spannungszustand gerät. Dann können wir präventiv beruhigende Maßnahmen einsetzen.

Und wenn sich ein Patient nicht beruhigen lässt?

Wenn der Patient nicht erreichbar ist, wenn er beruhigende Medikamente verweigert, dann wird er in ein Isolierzimmer gebracht. Falls eine Fixierung erforderlich ist, wird er gebeten, sich auf ein Bett zu legen, was tatsächlich auch viele machen. Wenn er sich weigert, wird er von uns auf das Bett gelegt. Dann wird er an fünf oder sieben Punkten fixiert. Eine Pflegekraft bleibt dann so lange bei ihm, bis die Fixierung aufgehoben wird.

Kann das auch mal tagelang andauern?

Zum Glück ist das sehr selten. Normalerweise dauert eine Fixierung bei uns höchstens sechs Stunden.

Wie erleben Patienten und Pfleger solche Situationen?

Fixierungen sind für alle Beteiligten enorm belastend, manchmal auch traumatisierend. Deswegen besprechen wir alle Zwangsmaßnahmen nach, mit Patienten und Pflegern. Fixierungen erschüttern die Beziehung zwischen Patient und Pflegepersonal. Das Vertrauen muss wiederhergestellt werden. Oft haben die Patienten selbst Ideen, wie eine Fixierung in Zukunft vermieden werden kann. Es werden zum Beispiel Signale vereinbart, bei denen sie auf ihr Zimmer gebracht werden wollen.

Wie oft kommt es zu Fixierungen?

Das schwankt sehr stark. Beschränkt man sich auf akut erregte, aggressive Patienten sind es etwa zwei bis drei Fälle im Monat. Generell hat sich in den vergangenen Jahren einiges getan, durch deeskalierende Methoden haben Fixierungen stark abgenommen. Hinzuzählen muss man jedoch gebrechliche Patienten, die beim Aufstehen stürzen könnten. Auch die müssen wir phasenweise fixieren.

Kann es eine Psychiatrie ohne Zwangsmaßnahmen geben?

Ganz wird man nie auf Zwangsmaßnahmen verzichten können. Wir sind schon auf einem guten Weg und versuchen, Alternativen anzuwenden, aber da wäre noch mehr möglich. Mit mehr Pflegekräften lassen sich Fixierungen in vielen Fällen vermeiden. Aber wenn in den Kliniken keine neuen Mitarbeiter nachkommen oder am Personal gespart wird, besteht auch in Zukunft die Gefahr, dass Patienten öfter fixiert werden.

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