Prozess um den Mord im Kleinen Tiergarten:Kleiderwechsel im Busch

Lesezeit: 2 min

Spurensuche am Tatort: Ein Tschetschene mit georgischem Pass wurde in dieser Parkanlage in Berlin-Moabit im Sommer 2019 aus nächster Nähe erschossen. Die Spuren führen offenbar nach Russland. (Foto: Paul Zinken/dpa)

Sie wollten nur kurz rasten - und ertappten dabei vermutlich unversehens einen mutmaßlichen Auftragskiller des russischen Staates. Zwei Zeugen berichten.

Von Ronen Steinke, Berlin

Die Sonne schien über dem Ufer der Spree, zwei junge Männer hatten sich gerade auf eine Treppenstufe gesetzt. Mit Blick aufs Wasser, einmal kurz durchschnaufen. Da kam ein Fahrradfahrer angerast, bremste abrupt vor ihnen ab. Der Radfahrer, in schwarze Sportsachen gekleidet, mittellange schwarze Haare, stieg wortlos ab - und sprang ins Gebüsch. Das Nächste, was die jungen Männer von ihm sahen, war nackte Haut, so erinnern sie sich. Es raschelte im Gebüsch. "Da waren wir schon etwas skeptisch", sagt einer der beiden, "aber okay, in Berlin ist alles möglich." Und heraus kam der Fahrradfahrer: völlig verwandelt, nun bekleidet mit einem pink-weiß gestreiften T-Shirt, kurzer Hose, Anglerhut. Die mittellangen schwarzen Haare: verschwunden. Offenbar war es eine Perücke gewesen.

Der junge Berliner, der dies nun erzählt, will anonym bleiben. Im Zeugenstand vor dem Staatsschutzsenat des Kammergerichts wird er nur als "Herr S." angesprochen. Denn wenn es stimmt, was das Bundeskriminalamt, der Bundesnachrichtendienst und der Generalbundesanwalt glauben, dann hat der Zeuge "Herr S." mit seinem Freund, "Herrn D.", am 23. August des vergangenen Jahres unversehens einen Auftragskiller des russischen Staates ertappt, wie dieser nach frischer Tat die Kleidung wechselte. Wenige Minuten zuvor, so lautet die Anklage, habe der Russe in unmittelbarer Nähe - in einer Parkanlage namens Kleiner Tiergarten in Berlin-Moabit - einen Tschetschenen mit georgischem Pass aus nächster Nähe erschossen. Die Rede ist von "Liquidieren". Und beinahe wäre der Täter unerkannt davongekommen. "Wir sind ihm dann unauffällig gefolgt im Abstand von hundert Metern", erinnert sich der Zeuge Herr S. Denn als der Radfahrer auch noch sein Rad in die Spree geworfen habe, sei es ihnen sehr komisch vorgekommen. Sodass sie die Polizei riefen und die herbeieilenden Beamten dirigierten.

Der mutmaßliche Mörder, den die Anklage als Wadim Nikolajewitsch K. identifiziert, verfolgt diesen zehnten Prozesstag so reglos wie die neun zuvor. Er ist aus einem Untersuchungsgefängnis hergebracht worden, dessen genauer Ort geheim gehalten wird. Dies zu seinem eigenen Schutz. Der russische Staat könnte ein Interesse daran haben, ihn zum Schweigen zu bringen, so die Sorge der Sicherheitsbehörden. Schweigen tut er nun so oder so. "Ich heiße nicht Wadim Nikolajewitsch K.", hat der Angeklagte am ersten Prozesstag durch seinen Verteidiger Robert Unger erklären lassen. "Eine solche Person ist mir nicht bekannt." Mehr hat er nicht erklärt. Laut Ausweisdokumenten lautet sein Name Wadim S. Die deutschen Behörden halten diese Papiere aber für gefälscht. Einige Indizien sprechen dafür, dass der Pass mit Hilfe von offiziellen russischen Stellen gefälscht worden ist, weshalb die Anklage glaubt, dass der russische Staat dahintersteckt. Den Prozess muss der Angeklagte seither durch die Scheiben eines vergitterten Glaskäfigs verfolgen, Mund-Nasen-Schutz im Gesicht, die Hände häufig wie jetzt über dem Bauch gefaltet. Die Haare trägt er nun nicht mehr so militärisch kurz wie bei seiner Verhaftung im vergangenen August.

Es geht um große Weltpolitik in diesem Prozess. Um die Absichten und Methoden der Putin-Regierung. Um die Selbstachtung der deutschen Bundesregierung, die bereits klargemacht hat: Wenn sich vor Gericht der Verdacht erhärten sollte, dass wirklich Putins Leute einen solchen Auftragsmord an helllichtem Tag mitten in Berlin-Moabit orchestriert haben, dann wären diplomatische Sanktionen fällig, ähnlich wie es sie nach dem Giftanschlag auf den Russen Sergej Skripal im britischen Salisbury vor drei Jahren gegeben hat. Im Gerichtssaal sitzen an jedem Prozesstag aber auch drei Frauen, sie gehören zur achtköpfigen Familie des tschetschenischen Mordopfers Selimchan Changoschwili. Als Anfang Oktober im Gerichtssaal die Anklage verlesen wurde, schluchzte eine von ihnen auf und weinte minutenlang. Sie erinnern daran: Es geht auch um die Tötung eines Menschen.

© SZ/rst - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: