Prozess in Detmold:Auschwitz-Prozess: Der Greis und die Gaskammern

Wieder steht ein früherer SS-Wachmann vor Gericht. Der Vorwurf: Beihilfe zum Mord in mindestens 170 000 Fällen. Doch Reinhold Hanning, 94 Jahre, schweigt.

Von Hans Holzhaider, Detmold

Es ist wenige Minuten nach zehn Uhr, als Reinhold Hanning in den Saal der Industrie- und Handelskammer Detmold geführt wird. Hierher hat die Schwurgerichtskammer des Landgerichts Detmold diese Verhandlung verlegt - des großen öffentlichen Interesses wegen, das diesen Prozess begleitet. Zum zweiten Mal innerhalb von neun Monaten ist der Massenmord im Konzentrationslager Auschwitz Gegenstand eines deutschen Strafprozesses. Im Juni hat das Landgericht Lüneburg den 94-jährigen Oskar Gröning wegen Beihilfe zum Mord in 300 000 Fällen zu vier Jahren Haft verurteilt. Nun also Reinhold Hanning. Auch er ist 94 Jahre alt.

Ein unscheinbarer Mann, mit altersgebeugten Schultern, aber noch vollem, grauem Haar. Er setzt sich, den Ansturm von Fotografen und Kameraleuten lässt er mit tief gesenktem Kopf über sich ergehen. An diesem ersten Verhandlungstag wird er kein einziges Wort sprechen. Sogar die Personalien muss die Vorsitzende Richterin Anke Grudda aus den Akten verlesen: Geboren am 28. Dezember 1921 in Helpup im Landkreis Lippe, wohnhaft in Lage, verwitwet.

Drei Monate bis zur Hungerkrankheit

Dann verliest Andreas Brendel, der Leiter der Zentralstelle für die Bearbeitung nationalsozialistischer Massenverbrechen in Dortmund, die Anklage. Sie unterscheidet sich signifikant von der, die gegen Gröning erhoben wurde. Auch Reinhold Hanning wird Beihilfe zum Mord an Tausenden ungarischen Juden zur Last gelegt, die von Mai bis Juli 1944 nach Auschwitz deportiert und sofort nach ihrer Ankunft in den Gaskammern ermordet wurden. Aber Hannings Einheit, eine Kompanie des SS-Totenkopfsturmbanns, war zur Bewachung des Lagers Auschwitz I, des sogenannten Stammlagers, eingesetzt.

Daher zählt die Anklage auch alle dort begangenen Tötungsverbrechen auf: die Massenerschießungen an der "Schwarzen Wand" im Hof des Lagergefängnisses "mit einer insgesamt unbekannten Zahl von Opfern"; die Selektionen im Häftlingskrankenblock, "bei denen kranke und schwache Gefangene aussortiert und überwiegend zur Tötung in die Gaskammern verbracht wurden"; und "Vernichtung durch Lebensverhältnisse": schwerste Arbeit bei unzureichender Kleidung und Ernährung, katastrophale hygienische Verhältnisse, fehlende medizinische Versorgung.

Drei Monate dauerte es, trägt Brendel vor, bis die körpereigenen Fettreserven abgebaut waren und die "Hungerkrankheit" auftrat - schwere Organschäden durch Eiweißverlust. "Muselmanen" nannte man im KZ die wandelnden Skelette, die unrettbar dem Tod verfallen waren. "Auf diese Weise kamen im Tatzeitraum mehrere Tausend Gefangene ums Leben." Von allen diesen Tötungsarten habe der Angeklagte gewusst, und auch, dass sie nur angewandt werden konnten, "wenn die Opfer durch Gehilfen wie ihn selbst bewacht wurden".

Nun wäre Hanning an der Reihe, etwas zu sagen. Er könnte von seinem Leben berichten, er könnte erzählen, was ihn bewogen hat, sich 1940 freiwillig zur SS zu melden, was er in Auschwitz getan und erlebt hat, wie es ihm nach dem Krieg erging. Aber Hanning schweigt. "Unser Mandant wird sich derzeit nicht zur Sache äußern", sagt Verteidiger Johannes Salmen. Zu den persönlichen Verhältnissen gibt der Verteidiger eine Erklärung ab, sie ist denkbar knapp: Acht Jahre Volksschule, danach Arbeit in einer Fahrradfabrik in Bielefeld. Ab 1940: "Militärdienstzeit". Am 3. Mai 1945 britische Kriegsgefangenschaft. Am 20. Mai 1948 entlassen, danach ein Jahr als Koch im Standort der britischen Garnison in Lage. Ab 1949 Verkäufer und Fahrer in einem Molkereifachgeschäft. Das habe er 1969 mit seiner Frau übernommen und bis 1984 weitergeführt. Das ist alles.

"Sie weinten, sie schrien, sie reckten die Hände zum Himmel"

Bevor die Vorsitzende Richterin die Beweisaufnahme eröffnet, macht sie eine Anmerkung. Der Strafprozess, sagt sie, diene der Feststellung der individuellen Schuld des Angeklagten: War er in Auschwitz? In welchem Zeitraum? Was hat er dort getan? Der "geschichtliche Kontext" - also das, was in Auschwitz geschehen ist, der Umfang und die Methoden des Massenmordes - sei allgemein bekannt; darüber sei "eine Beweisaufnahme nicht erforderlich". Aber das Gericht kenne das Anliegen der Opfer, die Geschichte ihres Leidens vor einem deutschen Gericht darzustellen, "und dem wollen wir nachkommen". Sie bittet Leon Schwarzbaum in den Zeugenstand.

Leon Schwarzbaum ist in Hamburg geboren. Als er drei Jahre alt war, ging die Familie nach Polen, in die Heimat seiner Mutter. "Es war ein gutes Leben", sagt er, "bis das Grauen über uns kam". 1943 wurden zuerst die Eltern, vier Wochen später wurde er selbst nach Auschwitz verschleppt. "35 Mitglieder meiner Familie wurden ermordet", sagt er. "Ich stand daneben, als ein 17-jähriges Mädchen erschossen wurde. Sie hatte rote Haare. Ich sah, wie der SS-Sturmführer Schwarzhuber auf dem Motorrad vor einem Lastwagen herfuhr, auf dem nackte Menschen zusammengepfercht waren. Sie weinten, sie schrien, sie reckten die Hände zum Himmel. Dantes Inferno. Ich träume noch heute davon." Leon Schwarzbaum hat aufgeschrieben, was er dem Gericht sagen will, aber jetzt weicht er von seinem Text ab. "Warum haben sie das getan? Warum haben sie alle diese Menschen umgebracht? Was war die Motivation? Das möchte ich gerne wissen."

Dann wendet er sich direkt an den Angeklagten. "Herr Hanning! Wir sind fast gleich alt, und bald stehen wir vor dem höchsten Richter. Ich möchte Sie auffordern: Sprechen Sie darüber, was Sie und Ihre Kameraden getan und erlebt haben."

Aber Reinhold Hanning schweigt. Seine Verteidiger weisen darauf hin, dass die zwei Stunden, die ihr Mandant laut medizinischem Gutachten verhandlungsfähig sei, abgelaufen sind.

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