Prozess gegen Reina-Attentäter:"Für mich ist das kein Mensch, der das gemacht hat"

Jahresrückblick 2017

Dieses Bild einer Überwachungskamera zeigt den Angreifer Abdulkadir Mascharipow am 1. Januar vor dem Reina Nachtclub in Istanbul.

(Foto: dpa)
  • Vor fast einem Jahr sterben bei einem Anschlag auf einen Nachtclub in Istanbul 39 Menschen.
  • Menschen, die schwer verletzt überlebten, sind heute noch traumatisiert.
  • Nun beginnt der Prozess gegen den mutmaßlichen Attentäter, der im Auftrag des IS gehandelt haben soll.

Von Lars Langenau

Bis kurz nach Mitternacht ist es eine runde Silvesterparty im prall gefüllten, schicken Club am Bosporus: Einige der mehreren Hundert Gäste essen Kebabs, andere Sushi oder französische Spezialitäten. Manche haben ihre Handys am Ohr, fast alle haben einen Raki oder einen Cocktail in der Hand, viele tanzen ausgelassen - und alle sind bereit, das Jahr 2017 fröhlich zu begrüßen. Oben leuchtet die älteste der drei Brücken über den Bosporus und unten, auf der europäischen Seite des Reina-Areals, tobt das Leben. Bässe wummern, Gläser klirren, Tischfeuerwerke brennen ab.

Plötzlich mischen sich Schüsse in die ausgelassene Stimmung. Im ersten Moment denken einige an Freudenschüsse, doch dann rennen die Menschen in Panik kreuz und quer, manche schmeißen sich zu Boden. Am Ende sind 39 Menschen tot und 79 verletzt. Es ist das bisher letzte große Attentat des sogenannten Islamischen Staates (IS) in einer Serie von schweren Terroranschlägen in der Türkei: 2015 und 2016 kam es zu mehreren Anschlägen in Istanbul und Ankara, die dem IS angelastet werden: In Istanbul zum Beispiel auf deutsche Touristen im Januar, auf den Atatürk-Flughafen im Juni - und dann verwandelte sich binnen Sekunden die traumhafte Silvesternacht 2016/17 im Reina in einen Albtraum.

Augenzeugen schildern später, dass ihnen diese Szenerie vorkam, als dauerte sie zwei, drei Stunden

Auf einem verschwommenen Video ist zu sehen, wie eine in dunkle Kleidung gehüllte Person mehrere Salven aus seinem Maschinengewehr auf Gasflaschen verschießt, sie zur Explosion bringen will. Die Metallteile platzen glücklicherweise nicht. Dann geht der Attentäter direkt auf die am Boden liegenden Menschen zu und schießt gezielt auf die, die sich noch bewegen. Einen jungen Türken etwa treffen fünf Kugeln: Eine ins Gesicht, eine in die Brust, eine in die Schulter und eine in die Wirbelsäule. Er überlebt schwer verletzt, doch bis heute ist er schwer traumatisiert.

Augenzeugen schildern später, dass ihnen diese Szenerie vorkam, als dauerte sie zwei, drei Stunden. Dabei waren es nur wenige Minuten, in denen der Attentäter all diese Menschen tötete. Nach wenigen Minuten waren auch die ersten Polizisten vor Ort - sie schrien von draußen und forderten den Täter auf, sich zu ergeben. Weitere schier endlose Minuten vergingen, bis sie sich in den Tumult und das Chaos trauten. Erst als dem Schützen die Munition ausging, floh er aus dem Nachtclub, nahm ein Taxi und tauchte unter.

"Die Leute, die neben mir getanzt haben, sind vor meinen Augen gestorben"

Eines der schwer verletzten Opfer, das anonym bleiben möchte, sagt heute zur SZ: "Manchmal denke ich, das war alles nur ein Albtraum, aus dem ich erwachen möchte." Noch immer höre er die Schreie der Menschen: "Die Leute, die neben mir getanzt haben, sind vor meinen Augen gestorben. Vorher war ich frei von Angst, heute zucke ich zusammen, wenn jemand nur klatscht. Ich habe das in meinem Kopf und bekomme das einfach nicht raus." Früher sei er kaum zu Hause gewesen, nur auf Achse. "Jetzt habe ich eine tiefe Traurigkeit in mir. Die Freude hat mich vollkommen verlassen."

Er will nur noch vergessen - aber heute wird seine Erinnerung wieder wach. Denn heute beginnt im Gerichtsgebäude am Gefängnis in Silivri vor den Toren Istanbuls der Prozess gegen den Mann, der diese Tat so kaltblütig verübt haben soll. Abdulkadir Mascharipow ist angeklagt, den Anschlag im Auftrag des IS verübt zu haben. Der 34-jähige Usbeke wurde zwei Wochen nach dem Attentat in einer Wohnung am Rande von Istanbul gefasst. Bilder nach seiner Verhaftung am 16. Januar zeigen ihn mit geschwollenem Gesicht. Mascharipow gab im Verhör an, den Anschlag auf Anweisung eines hohen russischen IS-Mitglieds namens Islam Atabajew alias "Abu Dschihad" begangen zu haben. Ein anderer Drahtzieher wurde nach US-Angaben in Syrien getötet. Mascharipow wollte zunächst den Taksim-Platz angreifen, entschied sich den Angaben zufolge aber in letzter Minute wegen der hohen Sicherheitsvorkehrungen dagegen.

Prozess gegen Reina-Attentäter: Türkische Soldaten sichern den Prozess gegen den mutmaßlichen Attentäter des Anschlags auf den Club Reina

Türkische Soldaten sichern den Prozess gegen den mutmaßlichen Attentäter des Anschlags auf den Club Reina

(Foto: AP)

Neben Mascharipow und seiner Ehefrau Sarina Nurullajewa sind 50 mutmaßliche Komplizen angeklagt und sitzen in Untersuchungshaft. In der dicken Anklageschrift steht allerdings, dass mehrere Planer des Anschlags weiterhin flüchtig seien. Bei den meisten Verdächtigen handelt es sich nicht um Türken, sondern um Ausländer. Sie stammen laut Anklageschrift aus Usbekistan, Tadschikistan, Kirgistan, Kasachstan, Russland, Ägypten, Tunesien, Somalia, Frankreich, China und dem Irak. Türkischen Medienberichten zufolge hat Mascharipow die Tat gestanden und angegeben, den Anschlag für Geld verübt zu haben.

Mascharipow saß am Montag durch eine Reihe Polizisten abgeschirmt von den anderen Angeklagten. Bei Prozessbeginn machte er von seinem Recht Gebrauch, die Aussage zu verweigern. Wegen 39-fachen Mordes und des Versuchs, die verfassungsmäßige Ordnung zu stürzen, drohen ihm 40-mal lebenslange Haft, schreibt die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu. Hinzu käme "vorsätzlicher versuchter Mord" an 79 Personen, was mit bis zu 2370 Jahren Gefängnis geahndet werden könne. Außerdem werde ihm "Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation" und Verstoß gegen das Schusswaffengesetz vorgeworfen, was bis zu 15 beziehungsweise zwölf Jahre Haft nach sich ziehen könne.

Davon will das Opfer des Anschlags nichts mehr wissen: "Der Attentäter hat mir alles weggenommen. Für mich ist das kein Mensch, der das gemacht hat." Vor einem Jahr war das Reina noch der angesagteste Club Istanbuls. Doch nach dem Anschlag öffnete der Club nicht mehr. Im Mai wurde das Gebäude teilweise abgerissen. Heute ist es nicht mehr als eine Ruine.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: