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Prozess gegen früheren SS-Mann Oskar Gröning:"Er stand an der Rampe, als meine Familie ankam"

Als SS-Unterscharführer zählte Oskar Gröning in Auschwitz Geld, das Häftlingen geraubt wurde. Nun steht der Greis vor Gericht. Was erwarten KZ-Überlebende, die zum Prozess angereist sind?

Von Peter Burghardt, Lüneburg

Am Tag davor sitzen Überlebende des Holocaust und Nachkommen der Toten vor einem Wald von Kameras und Mikrofonen. Die Weltpresse interessiert sich für den Prozess gegen den SS-Mann Oskar Gröning, der an diesem Dienstag in Lüneburg beginnt.

"Ich betrachte das als ein Geschenk des Schicksals", sagt Hedy Bohm, 87, im Gemeindesaal. Sie wurde als Jugendliche mit ihrer Familie von den Nazis nach Auschwitz-Birkenau verschleppt und überstand den Horror, weil sie als arbeitsfähig galt.

Aus Toronto nach Lüneburg

Ihre Eltern und viele Verwandte starben in den Gaskammern. Jetzt ist sie aus ihrer Wahlheimat Toronto in die norddeutsche Provinz gereist und eine Zeugin, wenn der 93-jährige Gröning vor dem Schwurgericht steht.

Es wird eines der letzten Verfahren, das sich mit der deutschen Tötungsmaschinerie im Dritten Reich befasst, 70 Jahre nach Kriegsende. Die meisten Opfer und Täter sind lange tot, der Angeklagte Gröning dagegen will trotz seines hohen Alters aussagen.

Dem SS-Unterscharführer von einst wird keine unmittelbare Gewalttat vorgeworfen, aber Beihilfe zum Mord in mindestens 300 000 Fällen. Er stand am Bahnsteig oder saß im Büro, als zwischen 1942 und 1944 vor allem ungarische Juden in das Vernichtungslager gebracht wurden.

Er registrierte das Geld der Häftlinge und gab acht, dass ihre Koffer und ihre Kleidung weggeräumt wurden. Gröning bekam den Beinamen "Buchhalter von Auschwitz" und wurde ein Symbol für die Tausenden Helfer der Massenmörder.

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Auch seine Strafsache war jahrzehntelang verzögert worden. Von 1963 bis 1965 war in Frankfurt über wenige Auschwitz-Aufseher gerichtet worden, die meisten Kriegsverbrecher entgingen den Richtern. Die Frankfurter Staatsanwaltschaft ermittelte später auch gegen Gröning, stellte die Untersuchungen indes 1985 mit fadenscheiniger Begründung ein.

Die Staatsanwaltschaft Hannover, das Lüneburger Landgericht sowie die Juristen Thomas Walther und Cornelius Nestler nahmen die Causa wieder auf; Walther und Nestler hatten bereits bei der erstinstanzlichen Verurteilung des SS-Schergen John Demjanjuk Nebenkläger vertreten.

So ist in Lüneburg auch Deutschlands so lange untätige Justiz ein Thema. Dies werde "ein Gedenktag der Versäumnisse", sagt Christoph Heubner, Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees.

Ob es nicht unverhältnismäßig sei, einen greisenhaften Handlanger anzuklagen, erkundigt sich ein Reporter. "Es geht nicht um Verhältnismäßigkeit, es geht um Mord", erwidert der Rechtsanwalt Walther. "Es ist nie zu spät, diese Leute vor Gericht zu stellen", spricht Hedy Bohm.

"Er stand an der Rampe, als meine Familie ankam"

Das Strafmaß sei zweitrangig, für ein Gefängnis ist Gröning wohl ohnehin zu alt. Es gehe um die Schuld. "Auschwitz war eine Sünde und bleibt es in alle Ewigkeit", sagt Bohm.

Was sie von Gröning erwarte, wird Eva Pusztai-Fahidi aus Budapest gefragt, auch die Ungarin entkam der Hölle. "Er stand an der Rampe, als meine Familie ankam", antwortet sie. "49 Mitglieder meiner Familie wurden in Auschwitz ermordet. Kann er mir diese 49 Familienmitglieder zurückgeben? Ich bin gespannt, was er zu sagen hat. Er wird sagen, dass er nichts getan hat. Er ist einfach nur an der Rampe gestanden."

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SZ vom 21.04.2015/odg
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