Provozierende Thesen zu Europa:Wie der Kampf um Hegemonie die Geschichte antreibt

Flucht Napoleons nach der Völkerschlacht bei Leizig, 1813

Treiben Konflikte die europäische Geschichte an? Spottbild auf die Flucht Kaiser Napoleons nach der Völkerschlacht bei Leipzig 1813

(Foto: Scherl)

Wächst Europa nur an Konflikten und nicht durch Überzeugungen? Der irische Historiker Brendan Simms erzählt eine Geschichte des neuzeitlichen Europa. Dabei erneuert er den berüchtigten Primat der Außenpolitik - und stellt Deutschland ins Zentrum der Kämpfe.

Von Gustav Seibt

Im Dezember 2001 - die Welt war gerade mit den Folgen des 11. September beschäftigt - erklärte der deutsche Außenminister Joschka Fischer, Europa wachse "nur durch Krisen und durch Druck und nicht durch Papiere und auch nicht durch Überzeugungen". Hat damals jemand die Parallele zu der berühmten Rede vor dem Preußischen Abgeordnetenhaus am 30. September 1862 vernommen, in der Otto von Bismarck sagte: "nicht durch Reden oder Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden, sondern durch Eisen und Blut"?

Brendan Simms, der 1967 geborene, in Cambridge lehrende irische Historiker, zieht diese Parallele in seiner wuchtigen Darstellung der europäischen Staatengeschichte seit 1453, die nun, ein gutes Jahr nach der Originalausgabe, in einer vorzüglichen deutschen Übersetzung erscheint, unter dem Titel "Kampf um Vorherrschaft".

Das gibt den englischen Titel "Europe. The Struggle for Supremacy" zutreffend wieder, der auf einen anderen berühmten Buchtitel anspielt: A. J. P. Taylors "Struggle for Mastery in Europe 1848-1918". Aber die deutsche Ausgabe hätte auch einfach "Die großen Mächte" heißen dürfen, um einen ähnlichen Effekt zu erzeugen, mit dem Hinweis auf Leopold von Rankes klassischen Essay zur neueren Geschichte Europas.

Provozierende Leitgedanken

Das Buch von Simms folgt zwei Leitgedanken, beide für die Mehrheit der englischen und deutschen Historiker heute provozierend.

Der erste: Es ist die Außenpolitik, der Kampf um Hegemonie und ihre Abwehr, der die neuere Geschichte Europas antreibt, und zwar bis in die Verfassungsentwicklung der beteiligten Großmächte.

Der zweite Leitgedanke ist: Dieser Kampf um Vorherrschaft im neuzeitlichen Europa spielte sich ab als Kampf in Deutschland, um Deutschland und gegen Deutschland.

Das sind zwei nicht unvertraute, doch lange nicht mehr gründlich verhandelte Grundannahmen. Die erste war geläufig als "Primat der Außenpolitik", die zweite als Überlegung, dass das Konzert der europäischen Großmächte - seit dem 18. Jahrhundert die Fünfherrschaft von Frankreich, England, Preußen, Österreich und Russland; in den Jahrhunderten davor mit anderen Mitspielern wie Spanien, den Vereinigten Niederlanden und Schweden -, dass dieses immer bewegte Mobile von Koalitionen, Kriegen, Einkreisungen, Präventivschlägen nur funktionieren konnte, weil das riesige Corpus Germanicum, die deutschsprachige Welt in der Mitte Europas, machtpolitisch nicht geeint war.

Weltkriege als Folge europäischer Hegemonialkriege

Von Ranke bis Georg Dehio stellten vor allem deutsche Historiker dies als Grundgesetz des nachmittelalterlichen Europas dar: Keine einzelne Großmacht kann die Hegemonie (oder "Universalmonarchie") auf dem Kontinent erreichen, weil stets eine starke Koalition von Gegnern bereitsteht.

Schlachtfeld Deutschland

In dieser Perspektive erschienen die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts als letzte europäische Hegemonialkriege um das spät geeinte Preußen-Deutschland. Sie waren Nachfolger der großen Kämpfe, in denen seit dem 16. Jahrhundert erst Habsburg-Spanien und dann im Zeitalter Ludwigs XIV. und Napoleons Frankreich niedergerungen worden war. England war an den drei Anläufen nur insoweit beteiligt, als es durchgehend an einer kontinentaleuropäischen Hegemonieverhinderung interessiert war.

Diese große Erzählung greift Brendan Simms nun auf, und er spitzt sie zu. Das Schlachtfeld dieser Kämpfe war bis in den Kalten Krieg nämlich Deutschland, und es stellte fast immer die entscheidenden Ressourcen dafür bereit. Aus Deutschland kamen die Soldaten Karls V., Philipps II. und des späten Napoleon, auf deutschem Boden wurde im Spanischen Erbfolgekrieg Ludwig XIV. besiegt, der französisch-englische Krieg um Amerika wurde im Siebenjährigen Krieg zwischen Preußen und Österreich mitentschieden.

Die Teilungen Polens: Nebeneffekte des deutschen Dualismus. Selbst die symbolisch prachtvolle, real eher machtlose deutsche Kaiserkrone verlockte alle Kämpfer um Hegemonie, den englischen König Heinrich VIII, die Franzosen von Franz I. und Ludwig XIV. bis zu Napoleon. Sie wäre der Siegespreis des Universalmonarchen gewesen.

So war die reiche, weiche Mitte Europas für sein Staatensystem das, was später im Zeitalter von Imperialismus und Weltpolitik seine koloniale Umwelt war: der Raum der leichtestmöglichen Machtverschiebungen. Dieses, das europäische System, implodierte dann im Kampf gegen Deutschland, den das 20. Jahrhundert sah. Es wurde herabgedämpft durch den Kalten Krieg (Hauptschauplatz: Berlin), in der Teilung Deutschlands, zugleich in der europäischen Integration, die über das Ende der Blockkonfrontation gerettet und verstärkt wurde, um vor allem eins zu erreichen: die Zähmung und Einbindung Deutschlands.

Das ist die große Geschichte, die Simms, gestützt auf eine immense Forschung, neu und faktenreich erzählt, in einem absichtsvoll kühlen Ton, mit untergründigem Witz und beiläufig gesetzten Pointen - die Parallele zwischen Bismarck und Joschka Fischer ist eine von vielen.

Da Europas Staatengeschichte hier als Wechselspiel in einem System erscheint, treten viele geläufige Fragen in den Hintergrund: vor allem die nach unterschiedlichen Wegen in die Moderne, nach Haupt- und Sonderwegen. Außenpolitische Stärke lässt sich, so Simms, in unterschiedlichen Formen erzielen, durch die Konsensbildung in einer parlamentarischen Verfassung ebenso wie durch die Willensbündelung in absolutistischen Monarchien. Das Heilige Römische Reich war korporativ, insofern libertär verfasst; seine Teilmonarchien, vor allem Preußen, waren es nicht. Bismarck operierte mit einer Mischung aus monarchischer Letztverantwortlichkeit und allgemeinem Wahlrecht.

Der dehnbare Begriff der "Geopolitik"

Simms' Kasuistik zum Primat der Außenpolitik ist reich und provozierend: Die großen Revolutionen in England und Frankreich folgten auf strategische Niederlagen im Mächtesystem, sie resultierten nicht aus den inneren Widersprüchen (von Gesellschaft und Verfassung), wie die Revolutionsforschung postuliert.

Glücklicherweise ist Simms' Erzählung präzise genug, um Wechselwirkungen auch in die andere Richtung erkennen zu lassen: So veränderte der technische Fortschritt, die Dampfschifffahrt, eben auch die Lage der Insel England, die sich nun verwundbarer fühlen musste als jemals zuvor - ein Vorgang, den der Luftkrieg weiter dramatisierte.

Die USA mit dem Problem der Sklaverei und das emanzipierte Judentum, das sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in der öffentlichen Meinung artikulierte und nach einem eigenen Staat strebte, behandelt Simms als Teile und Ableger des europäischen, nun atlantischen Mächtesystems; dieses wurde im 20. Jahrhundert nur durch zwei weitere Großmächte ergänzt, Japan und China.

Doch der Fokus von Simms bleibt bis zum Ende auf Europa gerichtet, und hier stellt der dehnbare Begriff der "Geopolitik", der undefiniert durch sein Buch geistert, eher eine Blickrichtung bereit, als dass er einen präzisen Wirkmechanismus beschreibt.

Vorwurf des Darwinismus

"Geopolitisch" ist vor allem das Reaktionsmuster, in dem auf jeden Vorstoß ein Gegenstoß folgt; an den räumlichen und materiellen Ressourcen in diesem Gesamtsystem entscheidet sich, ob eine Politik überhaupt Aussicht auf Erfolg hat. Hitler scheiterte nicht an seiner monströsen Vernichtungspolitik, sondern an der geopolitischen Unausführbarkeit seiner Lebensraumideen, die Simms mit kalter Rationalität vorstellt.

Man mag das für eine "realistische", nämlich antimoralistische Pedanterie halten und sich darüber aufregen - in der englischen Presse wurde schon der Vorwurf des "Darwinismus" erhoben. Allerdings ist dieser Realismus der Hintergrund einer oft berechtigten Ironie, etwa wenn Simms aus einer Erklärung des Europäischen Rats von 2001 den Satz zitiert: "Die einzige Grenze, die die Europäische Union zieht, ist die der Demokratie und der Menschenrechte." Zum Raum wird hier der Ideenhimmel. Und so bieten die letzten hundert Seiten dieser Erzählung, die bis 2011 reicht, auch zentrale Elemente zur Vorgeschichte der Krise zwischen Russland und der EU.

Ist die Einhegung Deutschlands in Europa auch nach der Wiedervereinigung gelungen? Diese Frage ist immer noch offen, sogar mehr als voreinigen Jahren: Der Albtraum von Margaret Thatcher, die EU werde zur Bühne einer neuen deutschen Dominanz, wurde in der Euro-Krise für viele Europäer wahr. Und wie soll es mit der EU mit Blick auf ihre Umwelt weiter gehen? Für Simms stellt sich die Alternative, ob Europa künftig eher dem Modell des Heiligen Römischen Reichs folgen oder aber zu einer stärkeren Einheit streben sollte.

In seiner riskantesten Volte überlegt der Brite, ob England das "Preußen des europäischen Projekts" werden solle, für die militärische Schlagkraft - im Bündnis mit einem Deutschland, das nicht engstirnig auf seinen wirtschaftlichen Vorteilen beharrt, sondern seine Stärke Europa insgesamt zugute kommen lässt. Brendan Simms will ein starkes, demokratisch legitimiertes Europa, auch mit Blick auf Putins Russland und Osteuropa.

Wenn die Europäer sich heute zurückzögen, so schließt der Autor mit einer letzten Provokation, dann "wird die Geschichte die Europäische Union als kostspieligen Jugendstreich einstufen, den der Kontinent auf seine alten Tage spielte und der eher das Ende als den Anfang eines Großmachtprojekts markierte".

Selbstkritische Pointe für Deutschland

Joschka Fischer spielte auf Bismarck an, Simms greift Max Weber auf, der in seiner Antrittsvorlesung von 1895 erklärte, man müsse "begreifen, dass die Einigung Deutschlands ein Jugendstreich war, den die Nation auf ihre alten Tage beging und seiner Kostspieligkeit halber besser unterlassen hätte, wenn sie der Abschluß und nicht der Ausgangspunkt einer deutschen Weltmachtpolitik sein sollte". Beide sprechen nicht von Deutschland, sondern von Europa.

Die geopolitische Kälte von Brendan Simms hält für die Deutschen mindestens eine selbstkritische Pointe bereit. Vielleicht ist unser Pazifismus, unsere Abneigung gegen Konfrontation und Prinzipien in Völkerrecht und Staatenkonflikten, die deutsche Mentalität von Ausgleich und Kompromiss, weniger Ausdruck eines moralischen Lernprozesses, sondern eher Folge unserer neuen bequemen Mittellage:

Wir sind, erstmals in unserer Geschichte, umgeben von Freunden, die die Konflikte an den Rändern Europas für uns ertragen müssen, sei es in der Ukraine oder im Baltikum, sei es in Lampedusa oder Gibraltar. Die Erzählung vom Kampf um Vorherrschaft ist so einseitig wie jede starke Geschichte. Wegwischen lässt sie sich nicht.

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