Osama bin Ladens letzte Minuten:Doppeltreffer in den Kopf

Waren die US-Soldaten auf einem Tötungseinsatz - ging es ihnen am Ende gar nicht mehr um die Festnahme des Terroristenführers? Inzwischen entsteht ein erstes Bild von den letzten Minuten Osama bin Ladens. US-Präsident Obama hatte vor einer Woche den Einsatzbefehl gegeben, nicht einmal Pakistans Regierung war eingeweiht. Das Protokoll der Aktion, die Details:

Tobias Matern und Oliver Das Gupta

Washington, D. C., am vergangenen Freitagmorgen. Der US-Präsident schickt sich an, in die Südstaaten zu fliegen. Er möchte in Alabama die Schäden der Hurrikane besichtigen. Vor seiner Abreise gibt Barack Obama noch eine hochbrisante Order.

Osama bin Ladens letzte Minuten: CIA-Zeichnung des Villengeländes: Hinter diesen Mauern sollen sich Bin Ladens letzte Minuten abgespielt haben

CIA-Zeichnung des Villengeländes: Hinter diesen Mauern sollen sich Bin Ladens letzte Minuten abgespielt haben

(Foto: AP)

Es ist der geheime Einsatzbefehl zum Zugriff auf Osama bin Laden.

Keine drei Tage später stürmt eine US-Sondereinheit das Versteck des Terrorführers im fernen Pakistan. Laut dem US-Sender ABC handelt es sich um 25 Männer der Navy Seals. Sie kommen mit Hubschraubern. Bin Laden setzt sich zur Wehr - weshalb er nach den ersten Angaben mit einem Kopfschuss getötet wird.

Inzwischen zeichnet sich ab, dass der Einsatzbefehl der Männer wohl nicht ernsthaft lautete: Capture or kill - festnehmen oder töten. Mehreren Quellen zufolge versuchten sie nicht wirklich, den Terroristenführer festzunehmen.

Ein Vertreter des Nationalen Sicherheitsrates der USA wird von der Nachrichtenagentur Reuters so zitiert: "Das war ein Tötungseinsatz." Es habe ganz offensichtlich keinen Wunsch gegeben, Bin Laden lebendig in Pakistan zu stellen, schreibt die Agentur. Die Washington Post schreibt allerdings, Bin Laden hätte sich ergeben können: "Er hatte eine Wahl; etwas, das seine Opfer nicht hatten." Er hätte sich ergeben können, aber das habe er nicht gewollt, und darum hätten die Navy Seals getan, wofür sie ausgebildet worden seien: "Der erste Kopfschuss beendete die Sache mit Sicherheit, aber sie gaben ihm einen Double Tap." Das ist der Fachausdruck für einen zweiten Schuss direkt nach dem ersten.

"After a firefight, they killed Osama bin Laden" - so hat es Obama selbst in seiner Rede an die Nation ausgedrückt: "Nach einem Feuergefecht töteten sie Osama bin Laden." Nach dem Gefecht also, nicht im Gefecht.

Die Todesumstände des US-Staatsfeindes Nummer eins werden die Welt noch länger beschäftigen. Denn immer schwingt die Frage mit, ob die USA durch eine schnelle Exekution auf dem Feld einen langwierigen Prozess vor dem Kriegsgericht verhindern wollten - der womöglich Al-Qaida-Anhänger zu neuen Taten provoziert und den Kampf gegen die Terroristen weiter erschwert hätte. So droht nun allerdings Legendenbildung von Verschwörungstheoretikern, zumal Bin Laden schon schnell auf hoher See bestattet wurde und bisher kein Bild der Leiche publiziert wurde.

Obama war im Situation Room dabei

Die genauen Umstände der letzten Minuten Osama bin Ladens werden wohl erst durch weitere Recherchen in den kommenden Tagen beleuchtet werden. Fest steht: Bei der Militäraktion, die 40 Minuten gedauert haben soll, sind drei weitere Männer gestorben, einer davon ein Kurier, von dem noch die Rede sein wird.

Mehrere Kinder und Frauen hatten sich auf dem Anwesen aufgehalten. Eine der Frauen starb ebenfalls im Kugelhagel, Meldungen, wonach sie von einem der Al-Qaida-Kämpfer als menschliches Schutzschild benutzt worden sei, wurden inzwischen dementiert. Zwei weitere Frauen erlitten Verletzungen. Keiner der Amerikaner kam zu Schaden, allerdings verlor das Kommando einen Hubschrauber. Das Team flog nach der Operation gemeinsam mit einem anderen Helikopter zurück. Den defekten Hubschrauber zerstörten die US-Soldaten vorher.

Präsident Obama verfolgte vom Situation Room des Weißen Hauses aus den Einsatz. Wenig später, nachdem ein Gentest letzte Zweifel ausgeräumt hatte, trat er vor die Presse und verkündete die Nachricht: Osama bin Laden ist tot.

Es ist das letzte Kapitel einer Menschenjagd, die in der Geschichte beispiellos ist. Seit vielen Jahren, spätestens seit den Terroranschlägen des 11. September 2001 war der Begründer des Terrornetzwerkes al-Qaida der meistgesuchte Mann der Welt. Fast zehn Jahre später geht die "umfangreichste und frustrierendste" Fahndung der Geschichte (New York Times) innerhalb von 40 tödlichen Minuten zu Ende.

Streng vertraulich war die Mission bislang, doch nach deren erfolgreichem Abschluss werden immer mehr Details der Suchaktion bekannt. Es sind Informationen aus erster Hand. Vernehmbar stolz hat die US-Regierung die Journalisten mit Fakten gefüttert.

Die Rolle des Kuriers

Demnach suchten die US-Geheimdienste seit Jahren nach Figuren aus dem inneren Zirkel Osama bin Ladens. Einer seiner Kuriere interessierte die Ermittler besonders - ihm vertraute der vorsichtige Terrorführer, sagten gefangene Islamisten übereinstimmend aus. Allerdings kannten die Amerikaner den Verbindungsmann nur seinem Kampfnamen nach.

In geduldiger Detektivarbeit kamen die Agenten voran. Vor vier Jahren konnten sie den Kurier identifizieren, vor zwei Jahren ermittelten sie den ungefähren Ort, wo der Vertrauensmann mit seinem Bruder wohnte.

Der Durchbruch folgte im August 2010. Man lokalisierte den genauen Wohnort des Kuriers. Es handelte sich um ein Anwesen etwa 60 Kilometer nördlich der pakistanischen Hauptstadt Islamabad, eine wohlhabende Gegend am Rande der Stadt Abbottabad.

"Maßgeschneidertes Terroristen-Refugium"

Diese Lokalisierung sei ein "großartiger Anhaltspunkt" gewesen, sagte nun ein US-Vertreter dem Sender Fox News. Sofort war den Amerikanern klar, dass dort eine weitaus wichtigere Person als ein Kurier residieren müsste: Es war, schreibt der britische Guardian, ein "maßgeschneidertes Terroristenrefugium".

Osama bin Laden

Er war jahrelang der meistgesuchte Mann der Welt: Al-Qaida-Führer Osama bin Laden. Dieses Foto stammt aus dem Jahr 1998.

(Foto: AP)

Den vor etwas mehr als fünf Jahren errichteten Gebäudekomplex umgab demnach eine bis zu fünf Meter hohe Mauer, auf der sich Stacheldraht türmte. Das mehrstöckige Hauptgebäude hatte nur wenige Fenster, der Zugang wurde schwer bewacht, die Rede ist von zwei Sicherheitstoren. Insgesamt hat der Komplex wohl eine Million Dollar gekostet, schätzten die Terrorfahnder - und trotzdem gab es weder eine Telefon- noch eine Internetverbindung.

Die Amerikaner sammelten weitere Hinweise. Weder der Kurier noch sein Bruder verfügten über eine bekannte Einkommensquelle. Die CIA fand schließlich heraus, dass dort ein Clan lebte - und dass diese Familie auf die von Bin Laden passte. Im Februar war der Geheimdienst sicher, das Versteck des Al-Qaida-Chefs gefunden zu haben.

Nun lief in größter Geheimhaltung die Planung für den Zugriff an. Die Aktion durfte nicht schiefgehen, denn schließlich war Osama bin Laden Staatsfeind Nummer eins. Er war der offizielle Grund, weshalb die Amerikaner (und die Nato) seit 2001 Krieg in Afghanistan führen. Doch weder Greifkommandos noch die massive Bombardierung der Höhlen von Tora-Bora hatten Erfolg. Osama bin Laden, das Gesicht des islamistischen Terrors, blieb für die Supermacht unauffindbar.

Gerüchte und Vermutungen

Allerlei Gerüchte wurden in den vergangenen Jahren verbreitet. Manche besagten, der Mann mit den sanften Gesichtszügen sei längst tot, dahingerafft von einem Nierenleiden; Verschwörungstheoretiker wähnten ihn in der Obhut der Amerikaner; andere meinten, man erwische den berühmt-berüchtigten Islamisten nie - durch Lecks im pakistanischen Geheimdienst ISI würde er über Kommandounternehmen stets vorgewarnt sein.

Immer wieder vermutete man den gebürtigen Saudi im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet, abgetaucht bei paschtunischen Stämmen. Dass er eine gute Autostunde von der Hauptstadt Islamabad residierte, verblüffte die Amerikaner.

US-Präsident Obama, der während seines Wahlkampfes die Ergreifung Bin Ladens versprochen hatte, schaltete sich seit Beginn des laufenden Jahres persönlich in die Causa ein. Allein fünf Sitzungen hielt er mit dem Nationalen Sicherheitsrat zu dem Thema ab, dazu kamen zahlreiche weitere Runden. Die Zahl der Eingeweihten wurde gering gehalten. Die Pakistaner wurden womöglich erst nach dem Zugriff informiert, zumindest weisen die bisherigen Reaktionen aus Islamabad darauf hin, dass die Überraschung dort groß ist.

Druck auf Pakistan

Soldiers walk past a compound where locals reported a firefight took place over night in Abbotabad Pakistan

In diesem streng bewachten Gebäude in Abbottabad soll sich Osama bin Laden versteckt gehalten haben.

(Foto: REUTERS)

Präsident Asif Ali Zardari berief ein Treffen seines Sicherheitskabinetts ein, auch danach teilte sein Sprecher mit, dass der Staatschef zunächst nichts sagen werde. Das Außenministerium in Islamabad bereite eine Stellungnahme "zu dem Osama-bin-Laden-Vorfall" vor. Aus dem berüchtigten Geheimdienst ISI hieß es, es habe sich um eine gemeinsame Aktion von US- und pakistanischen Kräften gehandelt.

In Washington klang dies anders. Hochrangige Politiker sagten, niemand sei über die Operation vorweg informiert worden. Obama hatte in seiner Ansprache etwas allgemeiner formuliert, die Zusammenarbeit mit Pakistan im Anti-Terror-Kampf bei der Ergreifung Bin Ladens sei hilfreich gewesen.

Druck auf Pakistan

Hinter vorgehaltener Hand sprechen die US-Vertreter weniger diplomatisch. CNN zitiert eine namenlose Stimme aus dem Washingtoner Regierungsapparat mit den Worten, man habe die brisanten Informationen mit keinem anderen Land inklusive Pakistan geteilt - aus Sicherheitsgründen. Kurzum: Man traute den Pakistanern nicht.

Für das zerrüttete Krisenland ist der erfolgte Zugriff auf den Oberterroristen ohnehin ein zweischneidiges Schwert. Regierung, Militär und Geheimdienst haben immer wieder abgestritten, Osama bin Laden befinde sich in Pakistan - westliche Regierungen hingegen waren sich da ziemlich sicher.

Dass der meistgesuchte Mann der Welt nun ausgerechnet in der Stadt Abbottabad von amerikanischen Spezialkräften getötet wurde, ist bemerkenswert: Ganz in der Nähe liegt eine renommierte Militärakademie, in der die Elite für die pakistanische Armee ausgebildet wird. Die USA werfen Islamabad regelmäßig vor, ihr Geheimdienst habe gute Kontakte zu Extremisten, vor allem zu solchen, die von pakistanischer Seite aus den Krieg in Afghanistan beeinflussen.

"Der Druck auf Pakistan wird nun von Seiten der Amerikaner erhöht werden", sagte der Sicherheitsanalyst Imtiaz Gul am Morgen nach der Festnahme zur Süddeutschen Zeitung. "Natürlich wollen sie nun auch wissen, wo die anderen hochrangigen Terroristen sind."

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