Süddeutsche Zeitung

Proteste:Wehe, wenn sie gelb sehen

Die Demonstrationen der Gilets jaunes haben die Polizeigewalt in Frankreich eskalieren lassen. Manche erwarten nun nichts Gutes für die Anti-G-7-Kundgebungen am Wochenende.

Von Nadia Pantel

Biarritz wird zur Festung. Zumindest am kommenden Wochenende. Die Grande Plage, der berühmteste Strand der Stadt, darf nicht betreten werden, Flughafen und Bahnhof sind von Freitagabend an geschlossen, wer sich in der Stadt aufhält, kann sie erst am Dienstag verlassen. Die Sicherheitsmaßnahmen, die den Alltag in dem südfranzösischen Badeort lahmlegen, sind nichts Ungewöhnliches für ein Treffen der Staats- und Regierungschefs aus Europa, den USA, Kanada und Japan. Wenn die G 7 zusammenkommen, werden inzwischen ganze Regionen abgeriegelt. In Frankreich auch unter explizitem Verweis auf die Gefahr eines terroristischen Anschlags. Ungewöhnlich ist jedoch das extrem angespannte Verhältnis zwischen Bevölkerung und Polizei im Land, das nicht nur Gruppen betrifft, die Ordnungskräften grundsätzlich misstrauen. Ungewöhnlich hoch ist auch der Zerstörungswille, den französische Demonstranten in den letzten Monaten bewiesen haben.

Als Menschen in gelben Warnwesten im November den Triumphbogen in Paris beschmieren, das innengelegene Museum zerstören, Autos anzünden und Geschäfte verwüsten, werden die Bilder auf der ganzen Welt gesendet. Am Rande der Bewegung der "Gilets jaunes" kommt es zu gewaltsamen Ausschreitungen. Videos von der verwüsteten Prachtstraße Champs-Élysées werden im französischen Fernsehen in den kommenden Wochen in Dauerschleife gesendet. Von den Geschäften, die in Bordeaux oder Toulouse von November bis in den Frühling hinein immer wieder demoliert werden, spricht hingegen kaum jemand. Allein im Dezember werden in ganz Frankreich mehr als 250 Autobahnmautstellen zerstört. Am 2. Dezember zünden Demonstranten die Präfektur in der Stadt Puy-en-Velay an, 70 Menschen werden verletzt. Dies ist die eine Seite der Gewalt, an die Frankreich sich im Verlauf der Proteste der Gelbwesten gewöhnen muss.

Die andere Seite dokumentiert der Journalist David Dufresne. Bis zum Juli dieses Jahres hat er 314 Fälle gezählt, in denen Polizisten auf Kundgebungen der Gilets jaunes mit ihren Dienstwaffen Demonstranten, Passanten oder Journalisten am Kopf verletzt haben. Die Aufsichtsbehörde der französischen Polizei (IGPN) hat zwischen November 2018 und Juni 2019 nicht weniger als 265 Verfahren eröffnet, in denen geprüft wird, ob Polizisten zu Unrecht zur Waffe gegriffen haben oder diese falsch eingesetzt haben. In einem Drittel der Fälle geht es um die Waffe LBD 40, eine Schusswaffe mit Hartgummimunition. Von November bis Juni stieg der Einsatz dieser Geschosse im Vergleich zum Vorjahr laut IGPN um 200 Prozent. Dasselbe gilt für den Einsatz von Tränengasgranaten.

Polizisten haben allein 2018 drei Millionen Überstunden angesammelt

Die französische Polizei wurde für Einsätze in den Vorstädten, den sogenannten Banlieues, in den 90er-Jahren mit diesen Waffen ausgerüstet, die für die deutsche Polizei nicht zugelassen sind. Der französische Regisseur Ladj Ly, dessen Film über Polizeigewalt "Les Misérables" 2019 bei den Filmfestspielen in Cannes den Preis der Jury gewann, stellt fest: "In der Banlieue sind wir schon seit 20 Jahren Gilets jaunes." Doch eine große Debatte über Gummigeschosse und Granaten wird in Frankreich erst geführt, seitdem die Waffen bei den Gelbwestenprotesten eingesetzt wurden. Diese Debatte hat dazu geführt, dass auch Menschen, die nicht an Demonstrationen teilnehmen, schockiert zur Kenntnis genommen haben, wie rabiat die französische Polizei teilweise vorgeht.

Für Frankreichs Innenminister Christophe Castaner ist der Gipfel in Biarritz nun eine doppelte Prüfung. Er muss zum einen beweisen, dass die ihm unterstellte Polizei in unübersichtlichen Situationen in der Lage ist zu deeskalieren. Zum anderen hat er es mit einer völlig ausgelaugten Belegschaft zu tun. Die Polizeigewerkschaften klagen über drei Millionen Überstunden, die sich allein 2018 angesammelt haben. Die Wochenzeitung Le Canard enchaîné druckte am Mittwoch einen Comic ab, auf dem eine Gruppe übermüdeter Polizisten zu sehen ist. Die Überschrift: "12 000 Polizisten bei G 7". Einer unterm Helm sagt: "Man könnte fast glauben, es ist Samstag." Im Winter, zu Hochzeiten der Gelbwestenbewegung, wurden jedes Wochenende Zehntausende Polizisten abgestellt, um die Demonstrationen zu sichern.

Für den Samstag ist in Hendaye, 30 Kilometer südlich von Biarritz, eine Großkundgebung von Globalisierungskritikern geplant. Am Sonntag rufen linke Gruppen zu einer "Aktion Regenbogen" auf, öffentliche Plätze rund um Biarritz sollen besetzt werden. Die Veranstalter betonen, dass sie nur mit Mitteln des zivilen Ungehorsams "gegen eine Politik protestieren, die Bürgerrechte einschränkt". Konkret gemeint ist damit das "Anti-Randale-Gesetz", das April 2019 in Kraft trat. Auf dessen Grundlage kann einzelnen Personen das Demonstrationsrecht aberkannt werden.

Französische Medien spekulieren darüber, ob die Gilets jaunes den Gipfel nutzen werden, um ihrer Bewegung wieder Auftrieb zu geben. Am Mittwoch hat im spanischen Irun, gleich hinter der Grenze, der Gegengipfel begonnen, der "Alternativen zum Neoliberalismus" erarbeiten will. Gelbwesten, die zur kapitalismuskritischen Strömung innerhalb der Bewegung gehören, nehmen an dem Alternativgipfel teil.

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SZ vom 23.08.2019
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