Süddeutsche Zeitung

Proteste nach arabischem Vorbild:Chinas Angst vor dem eigenen Volk

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Als "lächerlich" haben chinesische Politiker die Demonstranten am Wochenende verhöhnt. Doch die Proteste legen Chinas größte Schwäche offen: Trotz aller Erfolge traut die kommunistische Führung dem eigenen Volk nicht.

von Henrik Bork

Chinas Kampf gegen das arabische Virus dauert noch an, doch eine erste Zwischenbilanz ist bereits möglich. Sie offenbart Stärken wie Schwächen. Zunächst fällt die kühle Präzision auf, mit der ein starker Polizeistaat etwaige Proteste im Keim erstickt. Dies scheint alle Träume von einem demokratischen China in eine sehr ferne Zukunft zu verbannen. Sind nicht nur sehr wenige Chinesen dem anonymen Aufruf im Internet zu einer "Jasmin-Revolution" gefolgt? In Shanghai sollen es am Samstag lediglich hundert Menschen gewesen sein. Als Performance-Künstler und "lächerlich" haben chinesische Politiker die Protestler verhöhnt.

Doch gleichzeitig hat die arabische Revolution auch Chinas größte Schwäche offengelegt. All das Wirtschaftswachstum der vergangenen Jahre, das Chinas kommunistische Führung als neue Legitimation ihrer Macht beschwört, hat ihr nicht die Angst vor dem eigenen Volk nehmen können. Die rote Republik bleibt ein Land, dessen Deputierte in der Halle des Volkes vor dem eigenen Volk beschützt werden müssen. Es bleibt damit für ausländische Geschäftsleute ein Staat, in dem bei jeder Investition ein politisches Risiko einkalkuliert werden muss.

Es ist auffällig, wenn die Strategen des Staates jetzt auf dem Nationalen Volkskongress vor der Inflation und vor größerer sozialer Ungleichheit warnen. Warum diese Nervosität einer Führung, die doch unbestreitbare Erfolge bei der Modernisierung eines riesigen Landes hat? Die im Kampf gegen Armut im Milliarden-Volk vorankommt? Warum diese Unverhältnismäßigkeit der Mittel, wenn es darum geht, die Stabilität zu wahren? Als kürzlich im Internet zu Demonstrationen vor einem amerikanischen FastFood-Restaurant in der Pekinger Innenstadt aufgerufen wurde, hatten die Männer von der Staatssicherheit - das sind die mit den Knöpfen im Ohr - schon alle Fensterplätze in dem Etablissement besetzt. Sie bissen in ihre Hamburger, bevor die Handvoll von Demonstrierwilligen überhaupt auftauchte.

Warum müssen ausländische Korrespondenten geschlagen, in Seitengassen oder in die Lobby der Bank of China gezerrt werden, wie es mehreren passiert ist? Warum muss ein US-Kameramann von fünf chinesischen Beamten der Staatssicherheit ins Gesicht geschlagen werden, wenn er um Hilfe schreiend am Boden liegt?

Die Journalisten waren gekommen, um zu beobachten. Und sie hätten sicherlich auch über das Fehlschlagen der "Jasmin-Revolte" berichtet. Wovor also hat Chinas Führung unter Präsident Hu Jintao und Premier Wen Jiabao so große Angst, dass sie solche Brutalitäten nicht nur duldet, sondern sie anschließend durch ihre Sprecher auch noch rechtfertigen lässt? Eine Antwort ist, dass Chinas beeindruckendes Wachstum, das ihm immer mehr ausländische Schmeichler einbringt, zugleich mit gewaltigen Ungerechtigkeiten einhergeht.

Es stört viele in der Bevölkerung, wie gehabt kein Geld zu haben, während andere reich werden. Wer nur Großstädte wie Shanghai besucht, sieht nur die Schokoladenseite. Doch Chinas Spitzenkader wissen ganz genau, wie es draußen im Land aussieht - in der Parteizentrale treffen täglich detaillierte Berichte aus allen Provinzen ein.

180.000 Massenproteste hat es 2010 in der Volksrepublik gegeben, berichtet ein Soziologieprofessor der Pekinger Qinghua-Universität - das waren immerhin doppelt so viele wie vor fünf Jahren. Manchmal gehen Chinesen auf die Straße, weil sie von örtlichen Parteikadern zwangsenteignet oder übervorteilt wurden. Manchmal begehren sie gegen die unerträgliche Umweltverschmutzung vor Ort auf; diese Verschwendung der Ressource Natur wird in keiner Statistik berücksichtigt.

Doch obwohl das Unruhepotential wächst, dürfte zum jetzigen Zeitpunkt die Zahl der Chinesen größer sein, die mit ihrer Zentralregierung zufrieden sind. Die Einkommen wachsen, zwar sehr ungleichmäßig, aber sie wachsen. Die Zukunft verspricht den meisten Menschen in China eine zumindest moderate Verbesserung ihres Lebensumstände.

Außerdem reagiert Peking, wenn auch stets mit Verspätung, immer wieder auf die dringlichsten Sorgen der Bevölkerung. Das Schulgeld ist beispielsweise gesenkt worden, an der Reform der Krankenversorgung wird zumindest herumgedoktert, die kürzlich astronomisch gestiegenen Wohnungspreise waren dem Premier vor dem Volkskongress gerade wieder ein Machtwort wert. "Unsere Zentralregierung ist gut, nur die lokalen Parteikader sind korrupt" - das ist eine Aussage, die ausländische Reporter auf Reisen durch China häufig hören.

Die Revolutionen in Arabien und die Aufrufe zu Protesten in China, die folgenlos blieben, haben dennoch vor allem die Hybris und Unsicherheit in den Reihen der chinesischen Führung offengelegt. Es ist Hybris, auf Dauer besser wissen zu wollen als das eigene Volk, was gut ist just für dieses Volk. Und es ist die daraus resultierende Unsicherheit, dass dieses Volk schnell anderer Meinung sein könnte, sollte eines Tages der gut geölte Wirtschaftsmotor ins Stottern geraten.

Genau so wie in Tunesien, Ägypten oder Libyen.

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Quelle:
SZ vom 07.03.2011
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