Proteste nach Angriff auf Gaza-Konvoi:"Nieder mit Israel"

Die Türkei galt einst als Brücke zwischen dem jüdischen Staat und der islamischen Welt - nun bricht sich dort der Hass auf Jerusalem Bahn.

P. Münch und K. Strittmatter

Tel Aviv/Istanbul - Die Schlacht ist geschlagen, und selbst wenn überall die Wellen hochgehen, zeigt sich das Meer in Aschdod ganz ruhig und glatt. Am Horizont vereint sich das blaue Wasser mit dem blauen Himmel. Dabei ist dies kein Idyll: Eigentlich müsste man eine Blutspur sehen, die sich vom offenen Meer aus in den Hafen zieht. Denn hierher, in den Hafen von Aschdod, der nur ein paar Kilometer weit weg liegt von der Grenze zum Gaza-Streifen, hat Israels Marine die sechs Schiffe der Gaza-Flotille gebracht, die im Morgengrauen auf hoher See gekapert worden waren. Tote sind zu beklagen und Verletzte, viel Schmerz und Wut muss auf diesen Schiffen sein. Doch nichts davon ist zu sehen. Denn der Hafen von Aschdod ist gesperrt.

Proteste nach Angriff auf Gaza-Konvoi: Protest in Istanbul: Vor dem Atatürk-Denkmal schwenken türkische Demonstranten palästinensische Flaggen.

Protest in Istanbul: Vor dem Atatürk-Denkmal schwenken türkische Demonstranten palästinensische Flaggen.

(Foto: afp)

Als noch niemand an ein Desaster dieses Ausmaßes dachte, hatte das israelische Militär hier ein Lager aufgeschlagen für die etwa 700 Aktivisten, die mit ihren Schiffen voller Hilfsgüter die Gaza-Blockade durchbrechen wollten. Nun schaut die Welt auf dieses Lager, doch bekommt sie nicht mehr zu sehen als verschwommene Bilder von Kameras mit starken Teleobjektiven. Wer auf den Schiffen war, ist auch auf dem Handy nicht mehr zu erreichen. Keiner soll reden, keiner soll anklagen. Bei so vielen Toten geht es der Führung in Jerusalem nun darum, die Deutungshoheit zu erlangen. Deshalb spricht in Israel auch erst einmal nur einer: die Regierung.

Flankiert von zwei Uniformierten sitzt Ehud Barak am Mittag in Tel Aviv vor der Presse. Ein paar schnelle Worte des Bedauerns findet er für die Opfer, dann schaltet der Verteidigungsminister auf Angriff um: Den Organisatoren des Hilfskonvois gibt er die Schuld an der Eskalation, von einer "politischen Provokation" spricht er und von "gewalttätigen Aktivisten". Die Wagenburg hat sich formiert in Windeseile, Vize-Außenminister Danny Ayalon hatte schon am Morgen die Richtung vorgegeben: Israel könne nicht zulassen, dass ein Korridor geöffnet werde, um "Waffen und Terroristen in den Gaza-Streifen zu schmuggeln". Zu seiner Rechten wehte die israelische Flagge, und Ayalon blickte unbeirrt in die Kameras: Israel stand, in Gestalt dieses Danny Ayalon mit breiter Brust zu seinem Einsatz. Ausgerechnet Ayalon. Den kennen sie, drüben in der Türkei - ihn und seinen stolzen Blick. Den hatte Ayalon auch aufgesetzt, als er im Januar den türkischen Botschafter in Jerusalem auf einem demonstrativ niedrigen Büßersofa vor der Presse gedemütigt hatte.

Mit einem solchen Ende hatte keiner gerechnet, auch in der Türkei nicht. Eine Blockade durch die israelische Marine, gut, das hatten die Aktivisten erwartet. "Wir sind darauf vorbereitet", sagte noch vor einem Monat Salih Bilic, der Sprecher der türkischen Hilfsorganisation IHH, der Israel nun Nähe zu Hamas und anderen Islamisten vorwirft. "Wir bereiten uns darauf vor, Monate auf See zu verbringen", sagte er. Und Greta Berlin, Sprecherin der "Bewegung für ein Freies Gaza" prophezeite vergangene Woche: "Das wird ein PR-Albtraum für die Israelis." Das ist es ohne Zweifel geworden. Dass es auch ein Albtraum für die Aktivisten werden würde, damit hatte keiner gerechnet.

Jetzt ist die Türkei im Schock. Der Angriff hat das türkische Schiff im Konvoi getroffen, die Mavi Marmara, die Blaue Marmara, ein altes Istanbuler Fährschiff, an dessen Bord 581 Passagiere von Zypern aus gen Gaza in See stachen, unter ihnen drei Politiker der deutschen Linken. Die meisten Toten sind wohl Türken, beim Istanbuler Büro der IHH, einer islamisch geprägten Menschenrechtsgruppe, wo sie einen Organisationsstab für die Flotte eingerichtet hatten, hieß es am Montag: "Kontakt gekappt". Die Folgen sind noch nicht absehbar, aber eines ist klar, sagt die türkische Autorin und Nahostkennerin Ayse Karabat: "Die Beziehungen zwischen der Türkei und Israel werden nie wieder die selben sein." Der Angriff, das denken viele hier, hat wohl die lange einzigartigen Bande zwischen dem jüdischen Israel und der muslimischen Türkei durchtrennt.

Das Boulevardblatt Hürriyet tat etwas, was sie zuletzt am 16.Februar 1999 anlässlich der Verhaftung von Staatsfeind und PKK-Chef Abdullah Öcalan tat: Sie brachte ein Extrablatt heraus; Schlagzeile: "Israel hat angegriffen." Schon in der Nacht zogen die Leute vor die israelische Botschaft in Ankara und vor das Konsulat in Istanbul. Ein Fahnenverkäufer steht vor dem Glasturm im Istanbuler Finanzviertel Levent, der das Konsulat beherbergt. "Seit Mitternacht bin ich hier. Natürlich wäre es besser, wenn ich nicht wegen solcher Vorfälle so viele Fahnen verkaufen würde, aber schau..." Die Flagge der Palästinenser, die grüne Fahne des Islam, sie werden hier geschwenkt, merkwürdigerweise fehlt die rote der Türkei.

Von den tausend Demonstranten der Nacht sind hundert geblieben, genug um den Verkehr lahmzulegen. Die große Demonstration findet gerade auf dem Istanbuler Taksim-Platz statt, hier vor dem Konsulat stehen noch die streng Religiösen. "Steinigen wollen wir sie", ruft einer. Immer wieder Sprechchöre: "Nieder mit Israel". Eine Gruppe von Schülern brüllt mit, sie haben geschwänzt, um zu demonstrieren. "Wir erwarten jetzt Taten von unserem Premier", sagt einer: "Nach Somalia schicken sie Kriegsschiffe, wenn eines unserer Schiffe angegriffen wird. Ein 'One minute!' reicht da nicht mehr."

"Wie Piraten"

"One minute!" - Premier Tayyip Erdogans berühmtester Spruch. Beim Weltwirtschaftsforum in Davos schleuderte ihn Erdogan dem Moderator entgegen, als der ihm keine Gelegenheit gab, auf Israels Präsidenten Shimon Peres zu antworten, der die Invasion im Gaza-Streifen verteidigt hatte. Erdogan stand auf und verließ den Saal. One minute! - für Erdogans Kritiker im Westen steht der Spruch seither für dessen Hitzköpfigkeit und seinen Hang zu antiisraelischen Ausfällen. Für die komplette muslimische Welt steht er für Geradlinigkeit und Mut im Angesicht von westlicher Doppelmoral - für Freunde der Palästinenser wurde Erdogan damit zum Star. Fürs israelisch-türkische Sonderverhältnis war die eine Minute von Davos im Januar 2009 ein grell blinkendes Warnzeichen.

Premier Erdogan brach seine Südamerika-Reise ab. Das Kabinett berief eine Krisensitzung ein. Der türkische Botschafter wurde aus Tel Aviv zurückbeordert. Vizepremier Bülent Arinc, der völlig übernächtigt vor die Presse trat, sagte, die Israelis hätten das Schiff in internationalen Gewässern "wie Piraten" überfallen. Er kündigte an, drei türkisch-israelische Militärmanöver abzusagen. Das Außenministerium in Ankara sprach von einem Schaden, der womöglich "nicht wiedergutzumachen" sei. "Das war's, das ist der Abschied", glaubt auch Ayse Karabat. Die türkische Autorin hat jahrelang in Israel gelebt und einen Roman über das israelisch-palästinensische Verhältnis verfasst ("Unfreiwilliges Exil in Jerusalem"). Sie sagt: "Der Schaden ist irreparabel."

Das traurige Ende einer unwahrscheinlichen Partnerschaft. Die Türkei hatte als erstes muslimisches Land Israel 1948 anerkannt. Und als 1980 das türkische Militär putschte, blühten die Beziehungen richtig auf. Unterstützt vom gemeinsamen Freund USA gingen die beiden Länder eine vor allem für die Streitkräfte fruchtbare Kooperation ein. Die Türkei kaufte Waffen in Israel, die IsraelsJets durften dafür über Anatolien üben. Auch Premier Erdogans islamisch inspirierte AKP dachte nicht daran, das Verhältnis zu beenden - im Gegenteil: Erdogan bot sich Israel als Vermittler an zu Syrien und zu den Palästinensern. Im November 2007 durfte Israels Präsident Shimon Peres vor dem türkischen Parlament reden. Israels Einmarsch in Gaza Anfang 2009 aber überraschte Ankara, Erdogan fühlte sich offenbar verraten.

Westliche Kritiker greifen zu kurz, wenn sie Erdogans oft scharfe antiisraelische Rhetorik auf seine Wurzeln im politischen Islam zurückführen."Das hat mit Islamismus nichts zu tun", sagt Ayse Karabat: "Wenn Erdogan über Israel und die Palästinenser spricht, dann spricht er nur aus, was alle Bürger hier denken." Tatsächlich erhielt Erdogan schon vor dem Angriff vom Montag auf keinem Politikfeld so viel Unterstützung quer durch die Lager in der Türkei wie bei seiner Kritik an Israel: Die besondere Freundschaft zu Israel war immer eine Sache der Eliten, vor allem des Militärs gewesen. "Nun müssen wir aber aufpassen", sagt Ayse Karabat, "dass bei den Demonstrationen nicht die berechtigte Kritik an der israelischen Regierung in Antisemitismus umkippt." Am Montag ging bei einem Radrennen in Tekirdag schon ein türkischer Zuschauer einem israelischen Radler ans Trikot. Israel warnt seine Bürger vor Reisen ins beliebte Urlaubsland Türkei, die Hoteliers meldeten 15000 Stornierungen aus Israel.

Überall auf der Welt wird nun demonstriert. Und überall wird Solidarität bekundet mit den Palästinensern im Gaza-Streifen. Für Ismail Hanija, den Hamas-Führer in Gaza, ist dies deshalb ein ganz besonderer Tag. Als er an diesem Morgen vor die Kameras tritt - staatsmännisch, ruhig und mit einem Blumengesteck im Vordergrund - , wirkt er wie einer, der einen Sieg errungen hat über Israel, und das, ohne auch nur eine einzige seiner Raketen abgefeuert zu haben.

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