Süddeutsche Zeitung

Proteste in Ungarn:Die Schweigemauer bröckelt

Lange Zeit regte sich in seinem Land nur zaghafte Kritik am autoritären Gebaren von Premierminister Orbán. Nun ermutigen die USA die Ungarn zum Protest gegen ihre Regierung. Es geht um mehr als Korruption und Steuererhöhungen.

Kommentar von Cathrin Kahlweit

Vor einigen Tagen hat es Viktor Orbán mit einer Charme-Offensive versucht. In einer Rede vor der US-Handelskammer in Ungarn sprach er davon, dass beide Länder doch Alliierte seien, Freunde gar, und dann umgarnte er amerikanische Investoren, lobte ihre harte Arbeit, ihren außerordentlichen Beitrag zum erfreulichen Zustand der ungarischen Wirtschaft. Allein: Den aktuellen Streit - Einreiseverbote in die USA für ungarische Offizielle aufgrund harter Vorwürfe wegen Korruption und organisierten Betrugs -, den sprach der ungarische Premier nur in einem Nebensatz an.

Dabei waren es vielleicht genau diese öffentlich gemachten Vorwürfe der Amerikaner und die Weigerung der Orbán-Regierung, sie aufzugreifen oder gar aufzuklären, die eine erstaunliche Bewegung in Ungarn hervorgerufen haben: ein von außen ins Land geworfener Stein des Anstoßes, sozusagen. Denn zum ersten Mal seit vielen Jahren macht sich Empörung über die ungarische Regierung in der Bevölkerung bemerkbar.

Die schwache, linke Opposition hat in ihren kühnsten Träumen wohl nicht geglaubt, dass ein solches Empörungspotenzial mobilisiert werden kann. Es mag Zufall sein, dass zeitgleich zu dem so undiplomatischen wie energischen Vorstoß des US-Geschäftsträgers, der keine Gelegenheit zur Kritik an der mangelnden Korruptionsbekämpfung in Ungarn auslässt, ein zweites Problem in die Öffentlichkeit getragen wurde: der, später zurückgezogene, Versuch der Orbán-Regierung, eine Internet-Steuer einzuführen.

Korruption und Steuererhöhungen - diese beiden Themen treiben jetzt die Menschen auf die Straße; allein am Montag gab es wieder Demonstrationen in zwanzig Städten. Und auch die Gewerkschaften sind wieder da; sie protestieren gegen eine geplante Steuer auf geldwerte Vorteile, die sogenannte Cafeteria-Steuer, aber auch gegen den Abbau von Arbeitnehmerrechten.

Plötzlich gibt es wieder politische Debatten

Es geht also um Geld, das ist offensichtlich. Einer der populärsten Sprüche lautet daher: "Wir können nicht so viele Steuern zahlen, wie ihr stehlt." Aber die Sache beginnt inzwischen, sich zu verselbstständigen. Und so geht es plötzlich um mehr: um die ambivalente Haltung zu Europa, die Anbiederung an Russland, den Verlust demokratischer Rechte.

Als wäre ein Damm gebrochen, gibt es wieder öffentliche politische Debatten und öffentlich demonstrierten Mut: Eine Abgeordnete stellt eine EU-Flagge im Parlament auf, die wieder entfernt wird. Der Parlamentspräsident fühlt sich plötzlich bemüßigt zu betonen, dass jedermann in Ungarn seine Meinung frei äußern dürfe. Und Regierungskritiker beklagen wieder lauter, dass sie sich von der Europäischen Union komplett allein gelassen fühlen.

Da hilft es wenig, dass Orbán und seine Regierungspartei Fidesz nicht müde werden, die wirtschaftlichen Erfolge zu betonen, die doch allen Ungarn zugute kämen. Arbeitslosigkeit runter, Steuern runter, Beschäftigungsquote hoch, das sei doch großartig, sagt Orbán, und verspricht bald schon Vollbeschäftigung. Seltsam nur, dass Ökonomen diese Zuversicht nicht teilen können: Das Wirtschaftswachstum basiere zum Teil auf Geld aus EU-Kohäsionsfonds, die Arbeitslosigkeit sinke auch, weil immer mehr Arme zu gemeinnützigen Arbeiten herangezogen würden. Strafaktionen wie die an diesem Dienstag beschlossene Lex RTL, wonach der Sender künftig 50 Prozent seiner Werbeeinnahmen an den Staat abführen muss, erhöhen die Investitionsfreude bei ausländischen Unternehmen auch nicht gerade.

Orbán und sein Umfeld haben auf Kritik von außen immer aggressiv reagiert. Nun ist der Premier auch im eigenen Land unter Druck. Seine Reaktion: Unverständnis. Die Proteste wird das nur anheizen.

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Quelle:
SZ vom 19.11.2014/fie
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