Süddeutsche Zeitung

Proteste in Russland:Warum Putins Gegner schon gewonnen haben

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Niemand bezweifelt, dass Wladimir Putin wieder zum russischen Präsidenten gewählt werden wird. Und doch haben seine Kritiker bei den Protesten schon jetzt etwas sehr Wertvolles gewonnen: Würde und neues Vertrauen zueinander. Ihr Aufbegehren zeigt, dass auch der Westen lang gehegte Vorurteile gegenüber dem russischen Volk überdenken muss.

Julian Hans

Irgendjemand muss als Erster die Finger in den Mund gesteckt und gepfiffen haben. Und schon hoben Hunderte zu einem Pfeifkonzert an. Eigentlich waren sie an diesem Sonntag im November nicht in die Moskauer Olympia-Halle gekommen, um ihre politische Einstellung zu äußern, sondern um einen spannenden Kampf nach den Regeln des Free Fight zu sehen. Soeben hatte der Russe Fjodor Jemeljanenko den Amerikaner Jeff Monson besiegt, da stieg überraschend Wladimir Putin in den Ring und hielt eine Rede über Mut und Tapferkeit der Sportler und den Charakter eines "echten russischen Recken". Da schlug dem Premier mit einem Mal der ganze Überdruss der Fans entgegen.

Es war der Anpfiff für eine Protestbewegung, die bald die Menschen im ganzen Land erfasste und sie zu Hunderttausenden auf die Straßen trieb. Als hätten die Menschen nur auf ein Signal für den Umbruch gewartet, damit ein in den Jahren Putin'scher Stabilität erstarrtes Land wieder in Bewegung kommt.

Noch in der Nacht verbreiteten sich die Videos von dem Vorfall im Internet. Bis heute wurden sie viele Millionen Mal angeschaut. Alle wollten diesen Augenblick wie aus dem Märchen von des Kaisers neuen Kleidern mit eigenen Augen sehen, in dem das Kind ruft: "Der Kaiser ist nackt." Da stand der mächtigste Mann des Landes - hilflos und übertönt von den Pfiffen seines Volkes.

Wenige Wochen zuvor hatte die Partei Einiges Russland Wladimir Putin mit hundert Prozent der Stimmen zu ihrem Kandidaten für die Präsidentenwahl nominiert. Noch ehe sich die Delegierten in der minuziös inszenierten Show nach dem Applaus gesetzt hatten, rauschte das Wort von der Emigration durch die Sozialen Netze. Noch einmal zwölf Jahre Putin im Kreml, zwölf Jahre Stillstand? Für viele der meist jungen User wären das die besten Jahre ihres Lebens. Und die wollen sie nicht verlieren.

Doch mit den Pfiffen in der Halle drehte sich die Stimmung. Wenn sie auch aus dem Schutz der Masse von den dunklen Rängen abgegeben worden waren, so zeigten sie doch: Wir können uns wehren. Mit einem Mal war die Angst weg. Und ein Gemeinschaftsgefühl entstand, das sich in den Wochen nach der manipulierten Parlamentswahl im Dezember 2011 als immun gegen alle Mittel der Polittechnologie des Kreml erwies.

Alte Stereotype greifen nicht mehr

Nicht, dass die Regierung nicht versucht hätte, die Proteste niederzuhalten. Sie packte den ganzen Werkzeugkasten aus, der sich seit den Anfangstagen des Geheimdienstes Tscheka bewährt hatte - vom Lächerlichmachen der Gegner, über Verleumdungen und Drohungen bis hin zum Vorwurf, die Protestierenden seien Verräter und Agenten einer fremden Macht. Aber die Werkzeuge sind stumpf geworden. Die Protestierenden haben nicht nur ihr Regime erschüttert, sondern auch das Klischees vom ewigen russischen Charakter. Vom apathischen Volk, das erst richtig bei sich ist, wenn es unter der Knute lebt. (Dass die angeblich so dumpfen Russen im vorigen Jahrhundert drei Revolutionen durchgezogen haben - 1905, 1917 und 1991 - wird gern übersehen.)

Die Russen - ein Volk des Schlendrians und der Ineffektivität, jederzeit bereit, die Regeln zum eigenen Vorteil zu verbiegen? Vor jeder großen Protestkundgebung hat die Journalistin Olga Romanowa Geld gesammelt, das die Bürger über einen Internetdienst gespendet haben, um Bühne, Absperrungen und Sanitäranlagen bei den Veranstaltungen zu bezahlen. Täglich hat sie im Internet über Einnahmen und Ausgaben Rechenschaft abgelegt, mit einer Akribie und Transparenz, von der mancher deutsche Gemeinderat noch etwas lernen könnte.

Die Russen - ein Volk, das nur Anarchie kennt oder Diktatur, für einen Rechtsstaat aber noch nicht reif ist? In Scharen sind die Menschen in die Kurse für Wahlbeobachter geströmt, haben ihre Freizeit geopfert, um in stickigen Turnhallen Gesetze und Verfahrensregeln zu pauken, mit deren Hilfe sie am Sonntag ihre von der russischen Verfassung verbürgten Rechte verteidigen wollen.

Die Russen - ein Volk der Griesgrame, abwechselnd verschlossen oder laut und ungehobelt? Winkend und jubelnd standen die Menschen an den Straßen, als die Autos mit den weißen Schleifen, dem Symbol der Protestbewegung, vorbeifuhren. Nicht einmal die protzigen SUVs der Neureichen, die sich dem Zug angeschlossen hatten, riefen Wut oder Spott hervor.

Einander fremde Menschen fassten sich an den Händen und bildeten eine Menschenkette rund um den Gartenring, der die Moskauer Stadtmitte einschließt. Der Ausbruch der neuen Fröhlichkeit hat die Russen selbst überrascht: "Es ist unglaublich, plötzlich lächeln einen Unbekannte auf der Straße an!", schrieb eine Frau auf Twitter.

Viele Beobachter haben bemängelt, die Bewegung sei zu heterogen, ihr fehlten Strukturen, ein Programm und eine gemeinsame Führungsfigur, um wirklich Wirkung zu entfalten. Möglich ist aber auch, dass genau darin ihre Stärke liegt. Dass Studenten und Manager, Kommunisten, Bürgerrechtler und Nationalisten, Träger von Nerzmänteln und Kapuzenpullis über so lange Zeit miteinander solidarisch bleiben, zeugt vom Grad des Verdrusses mit dem System Putin. Mag sein, dass der die Wahl gewinnt und noch ein paar Jahre regiert. Diese Generation hat schon jetzt etwas viel Wichtigeres gewonnen: ein Gefühl für die eigene Würde und neues Vertrauen zueinander.

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Quelle:
SZ vom 03.03.2012
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