Proteste in Russland:Putins aufmüpfige Kinder

Proteste in Russland: Auf den Barrikaden: In vielen russischen Städten, wie hier in Sankt Petersburg, protestierten vor einer Woche Zehntausende Menschen. Es waren die größten Demonstrationen seit fünf Jahren.

Auf den Barrikaden: In vielen russischen Städten, wie hier in Sankt Petersburg, protestierten vor einer Woche Zehntausende Menschen. Es waren die größten Demonstrationen seit fünf Jahren.

(Foto: Dmitri Lovetsky/AP)

Warum die angeblich unpolitische Jugend in Russland plötzlich gegen Korruption und die autoritäre Elite protestiert.

Von Julian Hans, Moskau

In der Woche nach den größten regierungskritischen Demonstrationen seit fünf Jahren sind Wladimir Putin und Dmitrij Medwedjew gemeinsam auf Reisen gegangen - in die Arktis. Aber der Zorn der Bürger erreichte sie auch da. Als der Premier ein paar Fotos twitterte, erntete er einen Sturm sarkastischer Reaktionen. "Gab es da wenigstens was zu klauen, oder war die Reise umsonst?", "Bleibt am besten gleich da!". Ein Ton, als wäre die Angst vor der Staatsmacht verflogen.

Derweil rätseln zu Hause Medien, Politiker und Experten, was mit der Jugend los ist. Unter den Demonstranten waren auffallend viele Schüler und Studenten. Eine Generation, die man bisher für die unpolitischen Kinder Putins gehalten hatte. Mit einem Mal wirken Aufnahmen aus Klassenzimmern und Hörsälen, die in den vergangenen Wochen hier und da aufgetaucht waren und die man für skurril, aber belanglos gehalten hatte, wie Ankündigungen eines Sturms. Auf ihnen ist eine Jugend zu sehen, die den Respekt vor der Autorität verloren hat.

"Stimmt auf keinen Fall für diesen Nawalny"

Es ist ein Freitag Mitte März, als der Unterricht am Moskauer Tschaikowski-Konservatorium aus dem Ruder läuft. Die Studenten träumen schon vom Wochenende, auf dem Stundenplan steht "Kulturpolitik". Weil sich Daniil Piltschen in den letzten Sitzungen aufmüpfig gezeigt hatte, ließ sich die Dozentin diesmal etwas Besonderes für den Studenten einfallen. Etwas, das sie bald danach bereuen sollte.

So wie er auftritt, die ungekämmte Mähne, der strubbelige Bart, das lose Mundwerk, muss das schon von sich aus komisch wirken, wenn er einen Aufsatz über die "fünfte Kolonne" vorliest. Seine Kommilitonen filmen. "Es gibt Organisationen, für die das Volk eine einfache Bezeichnung gefunden hat: die fünfte Kolonne", liest Piltschen und unterbricht. "Kann mir jemand von euch vielleicht die ersten vier nennen?" Heiterkeit im Publikum. So geht das 20 Minuten. Der Text, den ihm die ältere Dame gegeben hat, klingt wie ein Telegramm aus der Vergangenheit. Sowjetische Paranoia trieft aus jedem Satz. Der Student liest mit ernster Miene, schüttelt warnend den Zeigefinger, rollt die Augen. Es gibt Szenenapplaus.

Die Kommilitonen erfahren, welche Parteien und Politiker sie besser nicht wählen sollten (die liberalen), auch der Name Alexej Nawalny fällt. "Stimmt auf keinen Fall für diesen Nawalny", warnt Piltschen ironisch, "nicht dass am Ende noch die Löhne steigen!". Es ist die Rede, dass Russland bedrängt wird, weil seine Regierung eine eigenständige Politik betreibe. Und davon, dass die fünfte Kolonne nichts anderes im Schilde führe, als diese Regierung abzulösen. Piltschen wirft ein, "in unserer Verfassung steht ganz klar, dass es zu den Grundprinzipien des Staates gehört, dass die Regierung abgelöst werden kann. Wenn es hier heißt, alle, die einen Machtwechsel wollten, seien Verräter, dann ist das eine Lüge und verfassungsfeindlich."

In Klassenzimmern wird der Muff der Sowjetunion wieder aufgewärmt

Die Dozentin versucht, das Heft wieder an sich zu reißen. "Moment, ich muss hier noch eine lange Liste mit Volksfeinden vorlesen", ruft Piltschen. Dann fährt sie selber fort: Gorbatschow ist drauf, Ex-Schach-Weltmeister Kasparow, der Musiker Makarewitsch. "Was hat der denn getan, dass er zu den Verrätern zählt?", fragt Piltschen. "Ich sage nicht Verräter, ich sage fünfte Kolonne". - "Aber was hat Makarewitsch getan?" - "Halten Sie den Mund." - "Nein, ich halte nicht den Mund." Tumult. Die Dozentin droht mit Rauswurf aus der Uni. Zwei Wochen später kündigt sie selber.

Tausende haben das Video seitdem im Internet angesehen. Es zeigt, was derzeit in Klassenzimmern und Hörsälen los ist, in denen noch der Muff der Sowjetunion hängt. Unter der Losung "patriotische Erziehung" wird er wieder aufgewärmt. Das Fach "Kulturpolitik" wurde Pflicht für alle Studenten des Konservatoriums. Es geht darum, dass Russland der wahre Bewahrer der europäischen Kultur ist und wie man sie gegen Einflüsse aus dem verkommenen Westen schützen kann.

Viele Jugendliche empfinden die Indoktrination als Beleidigung des Verstandes

Piltschen schreibt unter anderem Stücke für Geige und Piano. Bei einem Auftritt steht auf seinem Laptop: "Nein zu Nationalismus, Sexismus und Homophobie". Als vorigen Sonntag Tausende gegen die korrupte Elite protestierten, gehörte Piltschen zu den mehr als 1000 meist jungen Festgenommenen.

Als wäre ein Teil der Jugend dem verderblichen Einfluss des Westens schon verfallen. Bei einigen verfängt der verordnete Patriotismus. Paramilitärische Camps haben Zulauf. Wehrsport treiben, um eine starke Nation zu verteidigen, kann dem Leben auch einen Sinn geben. Viele aber empfinden die Indoktrination als Beleidigung des Verstandes.

Eine Schuldirektorin droht: Kritik an der Staatsmacht führt in den Bürgerkrieg

Etwa um dieselbe Zeit, als ein Musikstudent in Moskau ein sowjetisches Fossil bloßstellt, holen 500 Kilometer südlich in einer Kleinstadt Polizisten den Schüler Maxim Losew aus dem Unterricht. Losew hatte im Internet einen Aufruf von Nawalny-Unterstützern zur Demonstration geteilt. Die Beamten drohen ihm mit Gefängnis und nötigen ihn, den Eintrag zu löschen. Seine Mitschüler erhalten derweil eine Standpauke ihrer Direktorin, die ebenfalls später im Internet landet. Kritik an der Staatsmacht spalte das Land und führe in den Bürgerkrieg. Die Direktorin schreit.

Eine Generation will der nächsten ihre Ängste weitergeben. Aber sie wirkt gestrig und verstaubt, letztlich so komisch, dass die Jungen mit den Schultern zucken. Ein Schüler sagt ruhig: "Wir wollen Antworten" und "Wir wollen Gerechtigkeit."

Wie sie denn darauf kämen, dass sich das Leben unter Putin verschlechtert habe, sie hätten doch nie etwas anderes erlebt. Das stimmt; als die Schüler geboren wurden, saß Putin schon im Kreml. Sie haben die wilden Neunzigerjahre nicht erlebt, mit denen man sie schrecken will, und noch keine Repressionen gespürt. In einem Alter, in dem man Autoritäten skeptisch sieht, erleben sie ängstliche, hysterische Pädagogen, die kein positives Zukunftsbild zu bieten haben. Bisher dachten viele, das sei eine unpolitische Generation. Jetzt aber wird neu nachgedacht.

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