Proteste in Moskau:Das Polizeiaufgebot hat die Demonstranten nicht abgeschreckt

Proteste in Moskau: Festnahme in Moskau an diesem Samstag.

Festnahme in Moskau an diesem Samstag.

(Foto: AP)
  • Trotz Warnungen der Behörden haben in Moskau an zwei aufeinander folgenden Samstagen ungenehmigte Demonstrationen stattgefunden.
  • Mehr als 800 Menschen werden vorläufig festgenommen.
  • Die Protestwelle richtet sich gegen unfaire Regionalwahlen und zeigt, dass sich viele Moskauer ihre Rechte von der Obrigkeit nicht mehr streitig machen lassen wollen.
  • Die Opposition ist nicht stark genug, die Macht der Straße zu erobern. Die Lage wird deswegen auf Dauer aber nicht sicherer.

Von Paul Katzenberger, Moskau

Die Bilder ähneln sich, die derzeit aus Moskau an den Wochenenden übermittelt werden: Bereitschaftspolizisten mit Helmen, in schwarz-blauen Tarnanzügen und in Kampfstiefeln, die auf Demonstranten einprügeln und andere Protestierende im Polizeigriff zu gepanzerten Bussen abführen. Die Demonstrierenden wirken weit weniger martialisch, obwohl sie an Absperrungsgittern rütteln, Spottlieder singen und sich mit Slogans gegenseitig anspornen. Doch allein in ihrer Sommerkleidung - kurze Hosen, T-Shirts und Sportschuhe - signalisieren sie Friedfertigkeit.

So war es auch wieder an diesem Samstag. Nach offiziellen Angaben wollten sich 1500 (aber aus Sicht von Beobachtern deutlich mehr) Menschen in der Moskauer Innenstadt versammeln, um über den Boulevardring in friedlichem Protest "zu spazieren". Doch dieses Vorhaben wurde von den schwergerüsteten Sondereinsatzkräften im Keim erstickt.

Es war der vorläufig letzte Höhepunkt einer Protestwelle, die einsetzte, als vor drei Wochen deutlich wurde, dass viele Oppositionskandidaten von der offiziellen Wahlkommission nicht zu der Regionalwahl am 8. September zugelassen werden. Seither demonstrieren die Moskauer regelmäßig. Zu einer genehmigten Kundgebung am 20. Juli kamen 22 500 Teilnehmer, so viele, wie seit den Protesten am Bolotnaja-Platz in den Jahren 2011/2012 nicht mehr, als die Menschen gegen eine manipulierte Parlamentswahl und gegen die dritte Amtszeit von Wladimir Putin in Scharen auf die Straße gingen.

In der darauffolgenden Woche spitzte sich der aktuelle Konflikt um die Regionalwahl zu, denn Russlands bekanntester Oppositionspolitiker Alexei Nawalny hatte für den 27. Juli zu einer ungenehmigten Demonstration vor dem Moskauer Rathaus aufgerufen. Obwohl die Polizei die Bürger explizit vor einer Teilnahme gewarnt hatte, kamen wieder Tausende (die Schätzungen reichen von 3500 bis weit über 10 000 Teilnehmer), die von der Polizei mit Gewalt daran gehindert wurden, eine größere Menschenansammlung vor dem Rathaus zu bilden und in kleineren Gruppen in die Seitenstraßen abgedrängt wurden. Knapp 1400 Protestierende wurden dabei vorübergehend festgenommen.

Wenn es das Kalkül der Behörden war, die Demonstranten durch Härte von weiteren Aktionen abzuschrecken, so ging diese Rechnung nicht auf. Kaum war die Demonstration vor dem Rathaus vergangene Woche beendet, rief die Oppositionspolitikerin Ljubow Sobol zu dem Protestzug an diesem Samstag auf, dem erneut die Genehmigung verweigert wurde. Und doch folgten dem Aufruf wieder Tausende Menschen, die keine Scheu hatten, ihren Unmut zum Ausdruck zu bringen: Auf dem Puschkin-Platz im Herzen der Stadt riefen sie "Schande" und "Russland wird frei sein", bevor sie in Polizeibusse gezerrt wurden. Auf der Künstler- und Ausgehmeile Arbat forderten Demonstranten Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin zum Rücktritt auf. 828 von ihnen wurden nach den letzten Angaben des Bürgerrechtsportals OWD-Info festgenommen.

Niemand rechnete mit einem solchen Aufruhr

Das Ausmaß des Protests macht immer deutlicher, dass die Staatsmacht die Regionalwahlen nicht ernst genug genommen hat, als die zentrale Wahlkommission fast ausschließlich kremltreue Kandidaten registrierte und Regierungsgegner wegen angeblicher Formfehler nicht zuließ. Es waren die üblichen Manipulationen im politischen Betrieb Russlands, von denen niemand annahm, dass sie bei dem vergleichsweise unbedeutenden Urnengang einen solchen Aufruhr auslösen würden.

Doch die Moskauer sind immer weniger dazu bereit, sich ihrer Rechte berauben zu lassen: "Die immense Arroganz der Macht bei gleichzeitigem Stillstand macht die Menschen wirklich wütend", sagt die Politologin Lilia Shevtsova.

Und die Wut löst bei den Demonstranten eine Beharrlichkeit und Unerschrockenheit aus, die die Staatsgewalt immer hilfloser erscheinen lässt: Schon vor der Demonstration vor dem Rathaus ließ sie Alexei Nawalny als bekanntestes Gesicht der Opposition in 30-tägige Haft nehmen, weil er zur Teilnahme an der ungenehmigten Protestaktion aufgerufen hatte.

Demonstrationen finden trotz Festnahme der Führungsfiguren statt

Das konnte die Aktion allerdings nicht verhindern, ebenso wenig wie die Festnahme der Oppositionspolitker Ilja Jaschin, Iwan Schdanow und Dmitrij Gudkow in den Tagen nach der Demonstration vor dem Rathaus Tausende Bürger davon abhielt, als Zeichen des Protests an diesem Samstag über den Boulevardring marschieren zu wollen. Das konnten erneut nur wieder Einsatzkräfte der Polizei durch physische Gewalt abwenden, obwohl kurz vor der Aktion auch noch Ljubow Sobol festgenommen wurde, und der Protestbewegung damit so gut wie alle bekannten Führungsfiguren abhanden gekommen waren.

Hartes Durchgreifen allein dürfte das Problem für die Staatsmacht auf Dauer aber nicht lösen. Denn reine Repression wird nach Ansicht der Politologin Shevtsova dazu führen, dass sich die Reihen auf der Gegenseite, die bislang oft untereinander zerstritten war, noch mehr schließen.

Moskauer Stadtregierung erkennt ihr Dilemma

Aber auch Nachgeben ist für die Behörden nach Ansicht Shevtsovas keine Option: "Die Staatsgewalt hat Angst vor dem Gorbatschow-Syndrom, das das System zum Einsturz brachte nachdem es zuvor von innen heraus liberalisiert worden war", argumentiert sie. "Die derzeit herrschende Klasse wird diesen Fehler niemals wiederholen."

Dass die Moskauer Stadtregierung das Dilemma erkennt, vor dem sie steht, ließ sich in dieser Woche schon erahnen. Denn neben repressiven Maßnahmen, wie der Festnahme der wichtigsten Oppositionspolitiker, vollzog sie auch begütigende Winkelzüge: Mit einem Vorlauf von gerade einmal drei Tagen kündigte das Rathaus für dieses Wochenende erstmals das neue zweitägige "Schaschlik-Festival" im Gorki-Park an, das bei kostenfreiem Eintritt mit dem Auftritt bekannter russischer Rockbands wie Spleen, Chaif und Uma2rman lockte und offensichtlich manch potenziellen Demonstranten dazu bringen sollte, sich zu amüsieren, statt bei einer Protestaktion möglicherweise verhaftet zu werden.

Die Bekanntgabe des Events erfolgte so kurzfristig, dass manche der geladenen Bands erst durch offizielle Ankündigung von ihrem geplanten Auftritt erfuhren. Zwei der annoncierten Gruppen - Bravo and Tequilajazzz - sagten ihren Auftritt dann auch umgehend ab. Während die unabhängigen Medien am Samstag über die Polizeigewalt gegen Demonstranten berichteten, feierte sich das Rathaus für das "Schaschlik-Festival" selbst: 90 000 Menschen seien zu dem Großereignis geströmt, hieß es auf der Website der Behörde.

Zudem genehmigten die Stadtväter gleich zwei Großdemonstrationen gegen die manipulierten Regionalwahlen für den 10. und 11. August, die für jeweils 100 000 Teilnehmer angemeldet worden waren.

Das sah wie ein echtes Zugeständnis an die Opposition aus, mit dem sich diese in früheren Zeiten womöglich noch begnügt hätte. Mit dem Gefühl neuer Stärke reichen ihr die genehmigten Demonstrationen allein aber offensichtlich nicht mehr aus. Dafür spricht, dass im Lauf der Woche die Verhandlungen zwischen den Behörden und Oppositionellen über eine bewilligte Kundgebung am 10. August wegen der Weigerung der Beamten gescheitert waren, die Protestaktion am Samstag zuzulassen.

Genehmigt oder nicht genehmigt, das ist die entscheidende Frage

Denn zwischen beiden Seiten ist inzwischen umstritten, unter welchen Bedingungen demonstriert werden darf. Die Opposition will es nicht mehr hinnehmen, dass ihr Protestaktionen verweigert werden, sobald diese für zentrale Orte, wie vor dem Rathaus oder auf dem Boulevardring, beantragt werden. Die Stadt wiederum erteilt ihre Genehmigungen stets nur für Kundgebungen auf dem Sacharow-Prospekt, der sich in der Nähe des Leningrader Bahnhofs zu einem großen Platz ausweitet, von dem das städtische Leben von selbst weitgehend ausgegrenzt ist.

Die Auseinandersetzung wird sich daher weiterhin um die ungenehmigten Protestaktionen drehen. Der Politologe Wladimir Gelman von der European University in Sankt Petersburg glaubt nicht, dass sich die Demonstranten von Verhaftungen oder physischer Polizeigewalt vorerst davon abhalten lassen werden, an diesen Protestaktionen weiterhin teilzunehmen: "Der kritische Moment ist gekommen, wenn die Opposition 50 000 Menschen zu ihren Bedingungen auf die Straße bringt", sagte er dem Russland-Dienst von Radio Free Europe/Liberty. "Denn eine Demonstration dieser Größenordnung können die Spezialeinsatzkräfte der Polizei oder der Nationalgarde nicht mehr ohne Blutvergießen auflösen."

Der Kreml werde daher nichts unversucht lassen, eine gegliederte Oppositionsbewegung zu verhindern, die einen so großen Protest auf die Straße bringen könnte, sagt Gelman: "Der Obrigkeit werden alle Mittel recht sein, um die Öffentlichkeit einzuschüchtern. Das können alle möglichen Maßnahmen sein, vor allem aber konkrete Strafaktionen gegen die Veranstalter der Proteste."

Gefahr eines ungeregelten Aufruhrs

Vorerst scheint diese Strategie der Staatsmacht noch aufzugehen: Nachdem die führenden Köpfe der aktuellen Protestwelle im Laufe dieser Woche fast alle festgenommen waren, dauerte es bis zum Mittag bis endgültig feststand, wo genau die Demonstration an diesem Samstag überhaupt stattfinden sollte. Entsprechend war die Zahl der Teilnehmer mit offiziell 1500 deutlich geringer als am vergangenen Samstag mit mindestens 3500.

Doch eine Garantie dafür, dass sich nicht weiterer Frust aufstaut, ist das nicht. Langfristig sieht Politologin Shevtsova die Gefahr eines ungeregelten Aufruhrs in den Straßen mit unvorhersehbarem Ausgang: "Und davor hat sogar die Opposition Angst."

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