Proteste gegen Gaddafi:"Schreib, dass wir Libyer frei sind"

Vom Regime Gaddafis ist nichts mehr zu sehen im Osten Libyens. Man spürt auf den Straßen: Der Revolutionsführer wankt und könnte bald fallen. Doch Gaddafi will "bis zum letzten Blutstropfen" kämpfen.

Tomas Avenarius, Tobruk

Auf das Ortsschild haben sie ein Graffito gesprüht: "Willkommen im freien Libyen". An der Straße jenes neuen und freien Libyen, die in die Hafenstadt Tobruk führt, stehen ein paar junge Männer mit Stöcken und Gewehren, schauen flüchtig in die Autos und die Pässe der Passagiere: Die Staatsmacht im Osten Libyens wird fürs Erste von Bürgerkomitees ausgeübt. An einigen Häusern weht bereits die alte Flagge der Monarchie, die Muammar al-Gaddafi 1969 gestürzt hatte. Vom Regime des seit 40 Jahren herrschenden libyschen "Revolutionsführers" ist nichts mehr zu sehen auf dem Weg nach Tobruk.

Protesters shout anti-government slogans near a bombed ammunitions store in Tobruk

Aufständische in der ostlibyschen Stadt Tobruk präsentieren begeistert ihre eroberten Waffen und feiern den Sieg über die Armee.

(Foto: REUTERS)

Gaddafi hat die Kontrolle über die Cyrenaika, den armen Ostteil des Landes, verloren. Die Städte Tobruk und Bengasi sind in der Hand der Opposition. In der Stadtmitte Tobruks feiern die Menschen, es herrscht Freude über den revolutionären Sieg - einige jubeln auf den Mauern der ausgebrannten Polizeistation, andere paradieren begeistert durch die Straßen. So wie es aussieht, wankt das ganze Regime und könnte bald fallen.

Doch noch wehrt sich der Diktator mit aller Macht. Italiens Außenminister Franco Frattini rechnet denn auch mit einem "schrecklichen Blutbad" in Libyen.

Von diesen Ängsten ist an den Außengrenzen des Landes wenig zu spüren. "Gaddafi ist der Sohn Hitlers", sagt Kerrala Hussein und fügt hinzu: "Schreib, dass wir Libyer nun frei sind und dass wir gut sind. Wir sind die besten unter den Arabern." Hussein steht am Grenzübergang bei Salloum und kontrolliert die Pässe der wenigen Einreisenden. In Husseins Rücken herrscht Chaos. Am Grenzübergang in Richtung der ägyptischen Mittelmeerstadt Salloum stauen sich die Flüchtlinge: Beladen mit Taschen, Decken, Elektrogeräten, kommen sie in Bussen, Pick-up-Trucks und sogar auf einem Traktor. Hunderte Kleinbusse warten an der Grenze, um Ausreisewillige abzuholen; manch einer, der in eines der Autos klettert, hat offenbar geplündertes Gut dabei, Fernseher, Maschinen und Werkzeuge werden abgeschleppt.

Jeder will über die Grenze. Die ägyptische Armee hat ein paar Panzer aufgefahren, lässt ihre Militärpolizisten am Grenzposten kontrollieren. Aber all das ist pro forma: Auf der libyschen Seite gibt es keine Grenzer mehr. Der Weg aus dem Land ist frei. Und der nach Ägypten ebenso. Freiwillige wie der frühere Armeepilot Hussein prüfen nun die Pässe derjenigen, die nach Libyen wollen - und das in einem Land, das für Journalisten 40 Jahre lang kaum zugänglich war.

Ein Stück Schokolade als Willkommensgeschenk

Ein kurzer Blick in den Ausweis und ein Stück Schokolade als Willkommensgeschenk, dann erzählt Hussein, dass große Teile der libyschen Arme übergelaufen seien auf die Seite der Opposition. Er ist euphorisch, doch dann gibt er zu: Zumindest der Westen des Landes sei noch immer fest in der Hand Gaddafis, dem seltsamsten der arabischen Diktatoren.

Als selbsternannter Revolutionsführer klammert er sich an die Macht, lässt Oppositionelle zusammenschießen, schwört seine Anhänger ein auf den Kampf "bis zum letzten Blutstropfen". Gaddafi droht der Opposition mit der Vernichtung und will selbst jeden Preis zahlen: "Ich bin bereit, in Libyen als Märtyrer zu sterben." In einer überaus wirren Fernsehrede hatte er die Oppositionellen am Dienstagabend über 75 Minuten hinweg als "Ratten und Küchenschaben" beschimpft. Vor der Ruine seines Palasts bei Tripolis stehend, den US-Jets auf Befehl von US-Präsident Ronald Reagan 1986 bombardiert und zerstört hatten, mobilisierte er seine Gefolgschaft. Die "wirklichen Libyer" müssten sein Regime verteidigen: "Ihr jungen Männer und Frauen, die ihr Gaddafi liebt, geht auf die Straßen. Kommt aus den Häusern und greift sie an."

Tatsächlich kämpfen Gaddafis Leute mit wachsender Brutalität. Aus Tripolis mehren sich Berichte von plündernden und raubenden Soldaten, gedungene Söldner sollen wahllos auf Zivilisten schießen, regimetreue Soldaten sollen Haus um Haus durchkämmen, nach Regimegegnern suchen und diese exekutieren. Einwohner der Hauptstadt, die eigentlich fliehen wollen, verbarrikadieren sich und wagen sich aus Angst vor Übergriffen nicht mehr auf die Straße. Es gibt Gerüchte über Vergewaltigungen.

Der Kampf ist überaus blutig. Es gibt in Libyen schon nach einer Woche weit mehr Opfer als bei den Revolutionen in Tunesien, Ägypten oder Bahrain. Während die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch von 300 Toten ausgeht und ihre Zahlen "unvollständig" nennt, bezeichnete Italiens Außenminister Frattini Opferzahlen von mehr als 1000 als "glaubhaft". Nach Angaben von Flüchtlingen werden die Auseinandersetzungen in den Städten des Nordwestens rund um Tripolis stärker, in Sabratha seien Teile der Armee übergelaufen, Mitglieder von Revolutionskomitees aber würden auf alles schießen, was sich bewegt.

Und doch scheint die Unterstützung für den 68-jährigen Oberst immer stärker zu schwinden: Teile der Armee, das diplomatische Korps und der mächtige Innenminister Abdel Fatah Junes al-Abidi haben sich auf die Seite der Regimegegner geschlagen. Zudem hat ein wichtiger Stamm sich von Gaddafi abgewendet. Die Stämme spielen in Libyen bis heute eine große Rolle und sind Teil der Machtbasis des Herrschers. Über der Stadt Agedabia soll ein Flugzeug abgestürzt sein, weil Pilot und Kopilot absprangen; sie hatten sich offenbar geweigert, Bengasi zu bombardieren.

Unklar ist, ob Gaddafi weiter seine schwarzafrikanischen Söldner einsetzen und möglicherweise sogar frische Truppen aus befreundeten Ländern ins Land holen kann. Ein Gegenschlag seinerseits mit Hilfe von Söldnern und ihm weiterhin folgenden Soldaten ist daher nach wie vor möglich. Eine Blutbad wäre die Folge.

Das östlich der Hauptstadt gelegene Misrata soll nach heftigen Kämpfen allerdings inzwischen in der Hand der Regimegegner sein - es könnte der erste Schritt zum Fall Westlibyens sein, wo Gaddafi und sein Regime stärker verankert sind als im Osten. Ein Arzt berichtete aus Misrata, dass bei Angriffen auf Regierungsgebäude mindestens sechs Menschen getötet und gut 200 verletzt worden seien. Doch die Libyer ließen sich nicht einschüchtern: "Die Solidarität der Menschen ist großartig, selbst die Behinderten helfen uns", sagte er AP.

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