Proteste in Kiew:Wer zuckt, verliert

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Ein Demonstrant auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz.

(Foto: AFP)

Tausende Ukrainer demonstrieren in Kiew für eine Westbindung. Präsident Janukowitsch verbarrikadiert sich, seine Regierung versucht es abwechselnd mit Drohungen und Versprechungen. Zermürbungstaktik? Es ist ein Spiel, das jeden Moment in Gewalt umschlagen kann.

Von Cathrin Kahlweit, Kiew

Im Rathaus steht ein Flügel. Inmitten all der Waffen und Barrikaden, Schlafsäcke und Not-Toiletten ist das Instrument ein anrührendes Bild. Während sich die Besetzer des Hauses auch am zweiten Tag nach Ablauf des Ultimatums zur Räumung weiter auf einen Polizeieinsatz vorbereiten, während Evakuierungspläne geschrieben und Fenster verrammelt werden, spielt inmitten des ganzen Chaos jemand ungerührt Bach und Mozart. Ein Stück Normalität im Kiewer Wahnsinn.

Die Normalität draußen auf den Straßen der ukrainischen Hauptstadt sieht dramatischer aus, sie wird dominiert von Polizeikräften, die sich bereit halten für den großen, den ultimativen Einsatz gegen die pro-westlichen Demonstranten. Es ist ein Katz-und-Maus-Spiel in der gesamten Innenstadt, mehrere Tausend Mann Sondereinheiten hat das Innenministerium ringförmig um die City postiert.

Stündlich wird mit dem Beginn einer Razzia im Regierungsviertel gerechnet. Nur daraus ziehen Viktor Janukowitsch und seine Hintersassen weiterhin ihre wenige verbliebene Autorität: Nicht politische Kompromissbereitschaft oder Verhandlungswille sind es, die ihr Vorgehen prägen, nicht Klugheit oder Taktik. Sie verbreiten Angst. Pure Angst.

In der Nacht hatte es so ausgesehen, als werde die Polizei, wie schon länger angedroht, das Rathaus räumen lassen, das seit Tagen von Aufständischen besetzt ist. An anderen Orten der Dauer-Demonstrationen, rund um den Maidan und am Präsidentenpalast, hatten Uniformierte in der Nacht zum Mittwoch Barrikaden abgebaut und die Protestierenden, die "Schande" und "Ruhm der Ukraine" riefen, zurückgedrängt. Etwa zwei Dutzend Menschen waren verletzt worden. Vor dem Rathaus waren am Morgen Mannschaftsbusse aufgefahren, und wieder machte das Gerücht die Runde: Es geht los, sie kommen.

"Ich versichere Ihnen, dass der Maidan nicht geräumt wird"

Aber sie kamen nicht, erneut falscher Alarm, die Polizisten stiegen wieder in ihre Busse. Der Innenminister ließ, als gehe es ihm einzig um das Wohl der Stadtbevölkerung, gegen Mittag mitteilen, niemand müsse sich fürchten, es werde keine gewaltsamen Räumungen geben. Leider aber gebe es in Kiew seit Tagen Staus und Verkehrsprobleme, Bäume und Bänke würden zerstört, die Bürger könnten nicht in Ruhe zur Arbeit gehen und beschwerten sich über eine Störung ihrer Nachtruhe. Deshalb werde aufgeräumt. "Ich versichere Ihnen aber, dass der Maidan nicht geräumt wird", so formulierte Minister Vitali Sachartschenko treuherzig.

Zermürbungstaktik? Sollen die Gegner eingelullt werden?

Die Tausenden, die bei Eiseskälte und Schnee im Zentrum ausharren, taten, was sie seit Wochen tun: Sie machten einfach weiter. Bauten neue Barrikaden, sangen Lieder. Vor dem ebenfalls besetzten Gewerkschaftshaus bauten junge Leute Pyramiden aus Flaschen mit Sonnenblumenöl auf, damit wollen sie die Straßen schlüpfrig machen, wenn die Polizei kommt. Asterix und Obelix gegen die Römer, oder doch David gegen Goliath?

Für viele hier ist der Machtkampf ein Spiel, für manche ein Glück. Die Studenten der Kiewer Mohyla-Akademie, deren Examen wegen der Proteste vom verständnisvollen Direktor ausgesetzt worden waren, gingen stattdessen demonstrieren. Und Ex-Innenminister Jurij Luzenko, Mitstreiter der inhaftierten Ex-Premierministerin Julia Timoschenko, rief für Freitag, den 13., zur nächsten Groß-Kundgebung auf. Der Kampf um die Straße geht also weiter in Kiew.

Konzepte sind Mangelware

Nur: Was wird aus dem Kampf um die politische Macht? Diese Frage vermochte auch in der dritten Woche nach Beginn der Proteste gegen Janukowitsch und seine Abkehr von der EU niemand zu sagen. Ratschläge sind wohlfeil. Ein Mitglied der Partei der Regionen, bislang auf der Seite des Präsidenten, rät der Opposition, sich mit wichtigen Oligarchen zusammenzusetzen; allein 15 der reichsten Männer der Ukraine seien schließlich Parlamentsabgeordnete und hätten Einfluss auf die Regierung.

Die Opposition berät und berät, man trifft sich mit ausländischen Delegationen und ruft zum Widerstand auf. An Konzepten herrscht hingegen Mangelware. Wie auch: Wer wollte - und worüber - mit dieser disparaten, planlos agierenden Regierung verhandeln? Premier Mykola Asarow und sein Kabinett wollen im Amt bleiben. Janukowitsch hatte zwar über einen Runden Tisch geredet, aber dann hat es doch nur zu einem Treffen mit seinen Amtsvorgängern gereicht.

Der Staatschef verbarrikadiert sich lieber in getäfelten Büros oder auf seinem schwelgerisch ausgebauten Landsitz. Vor laufenden Kameras erklärt er, warum seine Entscheidung, das Assoziierungsabkommen mit der EU nicht zu unterzeichnen, unumgänglich war. Die ökonomische Lage habe keine andere Lösung erlaubt. Hat er nicht verstanden? Den Demonstranten geht es nicht mehr um einen Vertrag. Ihnen geht es mittlerweile um ein ganzes Land, ihr Land.

Und die Opposition? Ihr Versuch, per Misstrauensantrag eine neue, prowestliche Regierung zu installieren, war vergangene Woche an einer Stimmen-Mehrheit der Regierungsfraktion gescheitert; einen nächsten derartigen Versuch erlaubt die Verfassung erst im Februar. Und jetzt? Die Verfassung sollte man ändern, heißt es in den Thinktanks und bei den Politikanalysten, das Präsidialsystem in eine parlamentarische Demokratie umwandeln. Nur woher sollen dafür die Mehrheiten in der Werchowna Rada kommen?

Also schaut mancher, der derzeit alle paar Stunden flammende Reden auf der Maidan-Bühne hält, insgeheim schon auf 2015. Spätestens dann soll turnusgemäß die nächste Präsidentschaftswahl stattfinden.

Bislang haben sich die drei Parteichefs der wichtigsten Oppositionsparteien darauf festgelegt, dass jeder von ihnen einzeln antritt, um Janukowitsch zu beerben. Vitali Klitschko, Chef der Udar-Partei, hatte zwar auf eine Frage der SZ vor Kurzem betont, er kandidiere nur, wenn es einen einzigen Kandidaten - mithin also den Kandidaten Vitali Klitschko - gebe, aber das könnte Wunschdenken bleiben. Die drei Oppositionschefs Klitschko, Arsenij Jazenjuk und Oleg Tjahnybok haben mit ihrer Medienpräsenz in den letzten Wochen allesamt ihre Ausgangsposition für 2015 verbessert. Sie wissen: Wer zuerst zuckt, hat verloren.

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