Süddeutsche Zeitung

Proteste in Frankreich und Spanien:Die Jugend stürmt die Bastille

Kommt nach dem arabischen Frühling der europäische Sommer? Von Nordafrika kommend hat der Protest der Unzufriedenen erst Spanien erfasst und ist nun auf dem Protestplatz schlechthin angekommen: dem Place de la Bastille. 222 Jahre nach der französischen Revolution fordern die Jugendlichen nun nichts Geringeres als die Weltrevolution.

Javier Cáceres, Madrid, und Stefan Ulrich, Paris

Der Protest der Empörten weitet sich von Nordafrika kommend in Europa aus und ist auf dem Revolutionsplatz schlechthin angekommen: der Place de la Bastille in Paris. Seit einigen Tagen versammeln sich dort Demonstranten, um den "internationalen Finanzkapitalismus" zu geißeln, ihr Recht auf Arbeit und Wohnung einzufordern und den Protestierern an der Puerta del Sol in Madrid Solidarität zu bezeugen.

Erst kamen ein paar Dutzend "Indignés", "Empörte", an die Bastille; dann Hunderte; am Sonntag bereits tausend. Jetzt wollen sie eine Massenbewegung auslösen. "Was wir anstreben, ist eine Weltrevolution", sagt einer der jungen Leute an dem Ort, an dem 1789 die Revolutionäre die Gefängnisburg des Königs stürmten.

Zur Revolution will es die Polizei diesmal nicht kommen lassen, und auch nicht zu einer dauerhaften Platzbesetzung mit Zelten wie in Madrid. Daher räumte sie am späten Sonntagabend den Bastille-Platz. Doch die Demonstranten werden wiederkommen, womöglich in größerer Zahl. Sie werden erneut ihre Transparente enthüllen, mit Parolen wie: "Paris, wach auf!" Und sie werden wieder in die Megaphone rufen, dass sich die Regierungen zu Vollstreckern des Finanzkapitals machen ließen und den Sozialstaat zerstörten.

Auch in Städten wie Lyon oder Toulouse laufen bereits ähnliche Proteste, genauso wie in ganz Europa. Ob in Lissabon, Athen, Budapest, Wien oder Berlin, überall verabreden sich "Empörte" über das Internet und das soziale Netzwerk Facebook, um gegen Sparhaushalte, Sozialabbau, Korruption, eine ungerechte Verteilung des Reichtums und die politischen Eliten zu protestieren.

Oft funktioniert der Protest ohne Beteiligung von Parteien und Gewerkschaften; und in der Regel geht es, anders als im Mai 1968, nicht darum, das politische System umzustürzen und selbst an die Macht zu kommen. Die "Empörten" wollen, manchem Revolutionsgerede zum Trotz, meist nur mit ihren Sorgen ernst genommen werden. Als "Bibel" dient den Protestierern das Buch "Empört euch!" des 93-jährigen Stéphane Hessel, das in Frankreich ein sensationeller Erfolg ist.

Das Land der Großen Revolution diskutiert nun, ob auf den arabischen Frühling ein europäischer Protest-Sommer und ein globaler heißer Herbst folgen. Dafür könnte sprechen, dass Jugendliche in vielen Staaten pessimistisch in die Zukunft blicken. Hohe Jugendarbeitslosigkeit und miserabel bezahlte Praktikumsjobs plagen Spanier, Italiener und Franzosen, von Griechen oder Portugiesen ganz zu schweigen. In all diesen Ländern ist das Vertrauen in Parteien und Regierungen gering. Und überall organisiert sich die Jugend via Internet.

Frankreichs Außenminister Alain Juppé glaubt dennoch nicht, dass es zu einem großen Protest-Sommer kommt. Im Unterschied zu den Nordafrikanern lebten die Europäer bereits in Demokratien. Sie müssten nicht mehr darum kämpfen. Allerdings fordert er, Lehren aus den Protesten zu ziehen.

Angesichts der "grenzenlosen Geldgier der Reichsten" und der wachsenden Not der Ärmsten gebe es ein verbreitetes Gefühl der Ungerechtigkeit, sagte Juppé. Zudem sei fraglich, ob die repräsentative Demokratie funktioniere. Nötig sei eine "permanente Demokratie", in der die Menschen ständig an Entscheidungen beteiligt werden.

Die Initiatoren der spanischen Proteste debattieren derweil, wie es weitergehen soll. Sie halten seit zwei Wochen den Platz an der Puerta del Sol besetzt. In der Nacht auf Montag entschied ihr oberstes, basisdemokratisches Entscheidungsorgan, die "Vollversammlung", die Besetzung vorerst aufrechtzuerhalten.

Am Wochenende hatte die Bewegung 15.Mai einen beachtlichen Erfolg verbucht, als sie ihre Initiative in die Stadtteile trug. An den Stadtteilversammlungen nahmen Abertausende Menschen teil und diskutierten unter anderem über die Frage, ob die Gefahr größer ist, den Elan vom "15. Mai" durch die Fortführung der Besetzung oder aber durch ihr Ende aufs Spiel zu setzen.

Die Sicherheitsbehörden in Madrid harren der Dinge, auch im Wissen darum, dass das harte Eingreifen in Barcelona den Protestlern Zulauf bescherte. Aus dem Besetzerlager wird andererseits auf Probleme beim täglichen Zusammenleben, Kleinkriminalität und Sicherheitsbedenken hingewiesen.

An der Puerta del Sol ist inzwischen eine regelrechte Hippie-Kleinstadt aus Sperrmüll und Trekking-Zelten entstanden. Unter blauen Planen findet man Reiki-Kurse, Saharaui-Zelte, Bastelstuben, Rechtsberatung und Lese-Ecken, in denen Buchspenden säuberlich archiviert werden.

Von den Anrainern ist ein unterschiedliches Echo zu vernehmen. Einzelhandelsverbandssprecher, die der konservativen Regionalregierung nahestehen, klagen über schwere Umsatzeinbußen. Aus einigen Geschäften aber ist zu hören, die Lage sei längst nicht so schlimm wie zu Zeiten der gerade erst überwundenen Bauwut der örtlichen Behörden.

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Quelle:
SZ vom 31.05.2011/jube
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