Proteste in Frankreich:Notruf aus den Dörfern

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Die Straßenblockaden sind auf den ersten Blick ein Aufstand der Autofahrer. Auf den zweiten Blick ist es eine Rebellion des ländlichen Frankreichs. An mehr als 2000 Orten zeigt sich die Wut.

Von Leo Klimm und Nadia Pantel

Sie teilen keine politischen Überzeugungen, viele von ihnen gehen zum ersten Mal zu einer Demonstration, ihre Slogans lassen sich am ehesten mit "Schnauze voll!" zusammenfassen. Was sie eint, ist ihre Wut - und ein gemeinsamer Gegner.

Nach Zählung der Regierung haben am Samstag fast 290 000 Menschen in ganz Frankreich Straßenblockaden errichtet, um gegen steigende Spritpreise zu demonstrieren, für die sie ihren Präsidenten Emmanuel Macron verantwortlich machen. Auf den ersten Blick ist die Bewegung der gilets jaunes, der gelben Warnwesten, ein Aufstand der Autofahrer. Auf den zweiten ist es ein Notruf aus Dörfern, Klein- und Vorstädten im ganzen Land.

Am Wochenende haben sich diejenigen Franzosen eine Warnweste übergezogen, für deren Kontostand es am Ende des Monats einen entscheidenden Unterschied macht, wie viele Cent Diesel und Benzin pro Liter kosten. Es sind Menschen, die in Orten leben, aus denen sich der Staat ebenso zurückgezogen hat wie die Gewerbe. Bäcker fehlen, Krankenhäuser, sichere Jobs. Früher nannte man dieses ländliche Frankreich in Paris abfällig "die Provinz", heute spricht man politisch korrekter von "den Territorien". Unabhängig von der Bezeichnung bleibt es eine Welt, die sehr wenig mit der "Start-up-Nation" des Erfolgsmenschen Macron anfangen kann.

Gelbe Westen sind zum Erkennungszeichen wütender Franzosen geworden. Wie hier in Nantes errichteten Demonstranten vielerorts brennende Barrikaden. (Foto: Stephane Mahe / Reuters)

Von Brest in der Bretagne bis zum Mont-Blanc-Tunnel in den Alpen, von Calais am Ärmelkanal bis zur Mittelmeer-Metropole Marseille: An mehr als 2000 Orten haben wütende Bürger Straßen blockiert, um ihren Ärger zu zeigen. In Paris marschierten die Demonstranten zum Élysée-Palast und skandierten: "Macron démission" - "Macron, tritt zurück". Ein paar Tausend hielten auch am Sonntag noch durch.

Innerhalb eines Wochenendes sind die Warnwestenträger zu Macrons gefährlichsten Gegnern geworden. Es ist eine breite Bewegung, die sich über die sozialen Netzwerke organisiert hat. Sie haben sich jene neongelben Sicherheitskittel zum Symbol gewählt, die jeder Autofahrer in der EU immer dabeihaben muss.

Ein Großteil der Bevölkerung empfindet die Wirtschaftspolitik des Präsidenten als ungerecht

Waren es erst nur die Autofahrer, die sich gegen die bevorstehende Einführung einer Ökosteuer auf Kraftstoff auflehnten, wurden die Gelbwesten schnell zu einer Sammlungsbewegung aller Unzufriedenen: Ihr Protest richtet sich gegen hohe Steuern, gestiegene Lebenshaltungskosten - und vor allem gegen Macron selbst. Ein Großteil der Bevölkerung empfindet seine Wirtschaftspolitik als sozial ungerecht, seine Zustimmungswerte fallen auf neue Allzeittiefs. Einer Umfrage zufolge unterstützen 74 Prozent der Franzosen den Protest. 62 Prozent, so eine weitere Umfrage, finden eine Stärkung der Kaufkraft wichtiger als die Loslösung Frankreichs von fossilen Energieträgern, die Macron mit der Spritsteuer einleiten will.

Für die Oppositionsparteien ist das Wochenende der Proteste ein Triumph. Die konservativen Republikaner, das rechtsradikale Rassemblement National (früher Front National) und die linke France Insoumise um Jean-Luc Mélenchon haben sich flugs zu Unterstützern der Bewegung erklärt. Republikaner-Chef Laurent Wauquiez stellte sich in der zentralfranzösischen Auvergne zu den Protestierenden und sagte, er hoffe, dass "Macron seinen Fehler korrigiert". Der linke Mélenchon sang zwischen gelben Westen in Paris die Nationalhymne. Und seine Konkurrentin vom rechten Rand, Marine Le Pen, feierte in einem Fernsehinterview am Sonntag die Straßenblockaden als "einen großen Erfolg des französischen Volkes".

In den sozialen Netzwerken wird nun diskutiert: Wie kann der Druck aufrechterhalten werden?

Die Parteien müssen allerdings einige strategische Manöver anwenden, um sich den Warnwesten zu nähern: Mélenchons Parteifreund Thomas Guénolé sagte, France Insoumise stehe für Umweltschutz und sei daher eigentlich für einen "Benzinausstieg"; man sei jedoch auch "gegen Steuerungerechtigkeit und gegen die zynische Scheinheiligkeit der Regierung". Le Pen hatte die Mitglieder ihrer Partei angewiesen, die Rassemblement-National-Fahnen während der Proteste zu Hause zu lassen, obwohl unter den Unzufriedenen viele potenzielle Le-Pen-Wähler vermutet werden. Die Warnwesten-Bewegung will sich jedoch von keiner politischen Partei vereinnahmen lassen. Sollte sie an Schwung einbüßen, weil sie zu eindeutig dem rechten oder linken Lager zuzuordnen ist, würde das auch die Opposition schwächen, die auf ein weiteres Anwachsen des Unmuts setzt. Die Gewerkschaften wiederum verzichten bisher auf eine Teilnahme an den Protesten - unter anderem, weil sie nicht pauschal gegen Steuern wettern wollen, aber auch, weil sie davor zurückschrecken, gemeinsam mit Sympathisanten der Rechtsextremen zu demonstrieren.

Innenminister Christophe Castaner gab sich am Sonntag stoisch bis besorgt. In einem Interview spricht er vor allen Dingen über die Sicherheitslage und die vielen Verletzten. "Eine Demonstration muss man anmelden", kritisierte Castaner die vielen spontan errichteten Barrikaden; er rufe alle Beteiligten zur Vernunft auf. Bei einem Unfall an einer Straßensperre nahe Grenoble war eine Frau ums Leben gekommen. 409 Menschen wurden verletzt, 14 davon schwer.

Am Abend meldete sich Premierminister Édouard Philippe zu Wort. Er habe die Nachricht der Demonstranten gehört, sagte er im Sender France 2. Die Regierung werde aber an den geplanten Steuererhöhungen festhalten. Die Gelbwesten diskutieren am Sonntag in den sozialen Netzwerken und in lokalen Foren, wie sie den Protest fortführen können, um den Druck auf Macron aufrechtzuerhalten. Ohne einheitliche Forderungen, ohne Anführer und ohne eine klare Struktur könnte das schwierig werden. Doch der Antrieb der Proteste - die Wut - ist ungebrochen.

Etwa bei Alexandrine Mazet. Sie ist die Tochter jener 63-jährigen Demonstrantin, die am Samstag bei einem Unfall an einer Straßensperre starb. Nur wenige Stunden nach dem Tod ihrer Mutter steht sie selbst mit gelber Weste in Cavaillon bei Marseille an einem Blockadeposten - und klagt an: Macrons Regierung, sagt Mazet einem Fernsehsender, sei mitverantwortlich für den Tod ihrer Mutter. "Ohne diese Politik hätte sie gar nicht auf die Straße gehen müssen."

© SZ vom 19.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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