Proteste in der Ukraine:Verhaftet, verschleppt, verprügelt

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Ein vermummter Demonstrant bewacht eine Barrikade in Kiew (Foto: AP)

Wer von der Polizei festgenommen wird, hat noch Glück gehabt: In der Ukraine häufen sich Berichte über vermisste Protestierende. Viele von ihnen fallen bezahlten Schlägern in die Hände.

Von Julian Hans, Kiew

Es war am Mittwoch vergangener Woche, als Dmytro Bulatow zum letzten Mal Kontakt mit seiner Familie hatte. Der 35-jährige Vater von drei Kindern war einer der Anführer der Automaidan-Bewegung. Die Aktivisten fahren hinaus zu den noblen Datschen-Vierteln und demonstrieren in Autokonvois vor den Protzvillen der Politiker. Sie bremsten auch Polizeibusse aus, die Verstärkung vor die Barrikaden an der Hruschewskowo-Straße bringen sollten.

Seit die Polizei eine Gruppe von Automaidan-Aktivisten gestoppt und die Teilnehmer festgenommen hat, ist Bulatow verschwunden. Auf der Liste der Festgenommenen taucht sein Name nicht auf. In den Tagen zuvor hatte er Drohungen bekommen. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch äußerte "tiefe Sorge um das Leben und die Sicherheit von Dmytro Bulatow. "Wir haben jeden Grund zu der Annahme, dass sein Verschwinden mit seinem Engagement zusammenhängt", erklärt Julia Gorbunowa, eine Vertreterin der Organisation in der Ukraine.

Berichte über vermisste Aktivisten häufen sich in der Ukraine. Sie werden besonders ernst genommen, seit in der vergangenen Woche das Schicksal von Juri Werbizkij und Igor Luzenko bekannt wurde. Luzenko hatte am 21. Januar als freiwilliger Helfer den verletzten Werbizkij in ein Krankenhaus gebracht. Dort wurden die beiden von Unbekannten verschleppt, verprügelt und über ihre politischen Ansichten ausgefragt. Nach stundenlanger Tortur wurde Luzenko an einem Waldrand ausgesetzt. Schwer verletzt und halb erfroren konnte er sich bis zur nächsten Siedlung schleppen. Werbizkij wurde am Tag darauf im selben Wald tot aufgefunden. Ob er an den Folgen der Folter starb oder erfroren ist, wird derzeit untersucht.

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"Wir haben ein großes Netzwerk"

Das besetzte Gewerkschaftshaus am Kiewer Unabhängigkeitsplatz ist die Organisationszentrale der Maidan-Bewegung. Im Erdgeschoss wird gekocht, Helfer schleppen große Säcke mit Kleidung herbei, aus denen sich jeder etwas aussuchen kann. Sanitäter versorgen Verletzte. Eine Treppe höher sitzt Marat Kuchar unter einem Schild mit der Aufschrift "Jurist", auf dem Tisch vor ihm liegt eine lange Liste mit Namen und Daten. Er sammelt Berichte über Verhaftete, Vermisste, Entführte, und wenn er kann, kümmert er sich darum, dass ihre Rechte gewahrt werden.

Eine Hotline ist 24 Stunden besetzt, Informationen über Festnahmen kämen aber auch aus den Behörden, sagt Kuchar: "Wir haben ein großes Netzwerk. Auch viele Angestellte des Staates sind nicht einverstanden mit der Regierung. Wenn Demonstranten vom Maidan eingeliefert werden, sagen sie uns Bescheid." Auf Facebook und dem russischsprachigen Pendant Vkontakte werden Bilder von Vermissten und Festgenommenen verbreitet. Eine Liste der Bewegung führt etwa hundert Personen auf, die wegen der Proteste im ganzen Land in Haft sind. Mindestens sieben gelten als vermisst. Fünf Tote sind bestätigt.

Wer von der Polizei festgenommen werde, der habe noch Glück gehabt, sagt Kuchar. Größere Sorgen machen ihm Berichte von willkürlichen Entführungen. "Ein Jeep hält an, zwei Männer steigen aus, zerren ihr Opfer in den Wagen und fahren davon". Es gibt keine Behörde, bei der er sich nach dem Verbleib der Entführten erkundigen kann. Als Täter werden Männer aus dem kriminellen Milieu vermutet, die für Geld oder eine Strafverschonung die Drecksarbeit machen, die der Polizei verboten ist. In der Ukraine werden sie "Tituschki" genannt, seit im Sommer der 20-jährige Wadim Tituschko eine Demonstration gegen die Regierung überfiel und zwei Journalisten verprügelte. Später gestand der trainierte Kämpfer, er sei für den Überfall bezahlt worden.

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Was friedlich beginnt, schlägt schließlich in Gewalt um: Bis zu 200.000 Menschen haben sich in Kiew versammelt, um gegen Präsident Viktor Janukowitsch zu demonstrieren. Doch dann greifen Vermummte mit Knüppeln Polizisten an.

Auch auf der Seite der Demonstranten stehen mittlerweile Gruppen durchtrainierter junger Männer, die nichts gegen Schlägereien haben. Eine Gruppe radikaler Fans des Clubs Dynamo, dessen Stadion in direkter Nähe zur umkämpften Barrikade auf der Hruschewskowo-Straße liegt, hatte den Anfang gemacht. Danach erklärten gewaltbereite Fans zahlreicher anderer Klubs im ganzen Land ihre Solidarität mit dem Maidan und stellten sich gegen die Tituschki.

Mit der Mehrheit der Partei der Regionen wurde am späten Mittwochabend im ukrainischen Parlament die umstrittene Amnestie für festgenommene Aktivisten beschlossen. Bedingung für eine Straffreiheit ist allerdings, dass besetzte Straßen und Gebäude geräumt werden. Viele Oppositionspolitiker hatten bis zuletzt gegen das Gesetz protestiert, weil sie diese Bedingung ablehnen. Tags zuvor war aus diesem Grund bereits eine Abstimmung im Parlament gescheitert. Bundeskanzlerin Angela Merkel forderte Staatschef Viktor Janukowitsch in einem Telefonat auf, nun müsse es darum gehen, Verabredungen wie die geplante Amnestie umzusetzen.

Am Mittwoch zwangen Anhänger der rechten Svoboda-Partei Mitglieder der radikalen Bewegung Spilna Sprawa, das Ministerium für Landwirtschaft zu räumen, das sie am Freitag besetzt hatten. Justizministerin Jelena Lukasch hatte deshalb erwogen, den Ausnahmezustand zu verhängen. Ex-Präsident Leonid Krawtschuk appellierte dringend an die Abgeordneten, einen Plan zur Lösung des Konflikts auszuarbeiten. Das Land befinde sich "am Rande eines Bürgerkriegs".

© SZ vom 30.01.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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