Zwischen den Trümmern der Barrikaden und des Zeltlagers der Demonstranten stehen sie sich auf dem Unabhängigkeitsplatz im Zentrum Kiews gegenüber: Polizei und Sondereinheiten auf der einen, die Regierungsgegner auf der anderen Seite. Und die Welt kann das Geschehen verfolgen, über soziale Medien und per Livestream.
Was hinter den Kulissen passiert, ist an diesem Mittwoch nicht so einfach herauszufinden. 25 Tote und Hunderte Verletzte stellen in jedem Fall eine Zäsur in der Geschichte des Landes dar, die Eskalation hat eine neue Stufe erreicht.
Noch immer ist jedoch unklar, wie genau die Ausschreitungen am Dienstag derartige Dimensionen annehmen konnten. Eigentlich sollte das Parlament gestern über Verfassungsänderungen beraten, um die Macht des Präsidenten einzuschränken. Demonstranten wollten zum Parlament marschieren, um den Druck auf die Abgeordneten zu erhöhen, wurden von der Polizei jedoch aufgehalten.
Als bekannt wurde, dass das Parlamentspräsidium die Beratungen abgesetzt hatte, versuchten Demonstranten - einige von ihnen offensichtlich gewaltbereit - in Richtung Parlament vorzurücken. Steine und Molotowcocktails flogen, die Sicherheitskräfte schlugen mit Knüppeln, Tränengas, Gummigeschossen und sogar scharfer Munition zurück.
Präsident Viktor Janukowitsch hat für Donnerstag Staatstrauer ausgerufen, weist aber jede Verantwortung von sich. Die Gewalt sei von den Demonstranten ausgegangen, die Opposition könne die "Extremisten" nicht im Zaum halten. "Einige Berater wollen mich überreden, Gewalt einzusetzen", erklärt er am Morgen, "Aber ich war immer der Meinung, dass der Einsatz von Gewalt der falsche Weg ist." Ist das nach den Straßenschlachten Zynismus? Eine Drohung? Sein Verteidigungsminister Pawel Lebedew hat inzwischen angekündigt, Luftlandetruppen zur Verstärkung nach Kiew zu schicken.
"Die Menschen bleiben nicht zu Hause"
Unterdessen, so berichtet die ukrainische Journalistin Ivanna Kobernik im Gespräch mit Süddeutsche.de, erreichen neue Busse voller Demonstranten aus der Westukraine die Stadt, obwohl die Polizei die Zufahrten nach Kiew blockiert. "Es gibt vielleicht ein Gefühl von Angst", sagt sie, "aber die Menschen bleiben nicht zu Hause."
Etliche Protestierende trügen Körperpanzer, viele von ihnen - so zeigen es die Live-Bilder - Helme. Vor allem Männer würden nun auf dem Maidan ausharren, die "genau wissen, womit sie rechnen müssen", wie Kobernik sagt. Sie geht davon aus, dass die jüngste Eskalation die Leute nicht abschreckt, sonder eher motiviert, weiter zu demonstrieren. "Bisher ist es nach jeder Verschärfung der Situation zu einer Mobilisierung der Leute gekommen."
Längst geht es für die Demonstranten nicht mehr nur um die Frage, ob sich die Ukraine Russland oder der Europäischen Union zuwenden soll. Es geht um Präsident Janukowitsch und das System, das er verkörpert. Um die Korruption, den Klüngel, die politische Machtkonzentration der vergangenen Jahre.
Dieser innenpolitische Konflikt scheint nur schwer lösbar, zumal Janukowitschs Partei der Regionen im Osten des Landes angeblich weiterhin die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich weiß und der Einfluss der beiden Oppositionsanführer Vitali Klitschko und Arseni Jazenjuk auf Teile der Demonstranten begrenzt ist. Dass die Trennung zwischen Ost und West der entscheidende Punkt in dem Konflikt sei, dem widerspricht Kobernik allerdings: "Das hier ist kein Bürgerkrieg zwischen verschiedenen Teilen der Ukraine, sondern ein Kampf gegen die korrupte Regierung, die sich mit Polizei und Spezialeinheiten verteidigt."
Eine Übergangsregierung - aber wie?
"Ein Kompromiss wäre nur noch möglich, wenn Janukowitsch bereit wäre, seine Macht an eine Übergangsregierung abzugeben", sagt der deutsche Politikwissenschaftler Andreas Umland, der in Kiew an der Mohyla-Akademie lehrt. Doch bislang scheiterten alle Versuche, die in diese Richtung gehen.
Auch deshalb wächst der Druck auf die Europäische Union, härter mit der ukrainischen Regierung umzuspringen. "Wir haben einen Präsidenten, der auf Worte nicht hört und nur Taten versteht", sagt Mykola Riabtschuk vom Ukrainischen Zentrum für Kulturstudien in Kiew. "Sanktionen gegen den Innenminister und die Kommandeure der Sondereinheiten, die für die toten Demonstranten verantwortlich sind, wären ein Signal." Oppositionelle fordern zudem, die EU-Konten Janukowitschs und seiner Familie einzufrieren und Ermittlungen wegen Geldwäsche einzuleiten.
EU schwenkt um
Bislang hatte sich die EU eher als Vermittler positioniert. Dies ändert sich nun jedoch. Bei einem Außenministertreffen am Mittwoch soll über "restriktive Maßnahmen" diskutiert werden - ein Schritt, den Bundeskanzlerin Merkel am Montag noch abgelehnt hatte. Nun signalisiert Außenminister Frank-Walter Steinmeier einen Sinneswandel: Wer Blutvergießen zu verantworten habe, müsse damit rechnen, dass Europa "die bisherige Zurückhaltung bei persönlichen Sanktionen überdenken muss".
Womöglich könnten eine Ächtung durch die EU dazu führen, dass der Wirtschafts- und Oligarchen-Flügel in Janukowitschs Partei der Regionen Druck auf den Präsidenten ausübt, doch noch das Feld zu räumen. "Viele von den Geschäftsleuten haben Angst, sie sind abhängig von Janukowitsch", sagt Riabtschuk. "Aber auch sie kalkulieren Kosten und Nutzen." Auch Politologe Umland kann sich nicht vorstellen, "dass die Machtverhältnisse in der Regierungspartei stabil bleiben." Er wagt die Vorhersage: "Wir erleben die letzten Tage der Präsidentschaft Janukowitsch."
Allerdings gab es Prophezeiungen dieser Art schon häufiger. Niemand weiß, ob der Präsident am Ende nicht doch das Militär die Proteste gewaltsam niederschlagen lassen wird. Und die Möglichkeit einer Spaltung des Landes steht ebenfalls im Raum; jüngst kamen aus russischen Regierungskreisen zumindest Forderungen nach einer stärkeren "Föderalisierung" auf.
Die Unterstützung der Ukrainer für eine Trennung von Osten und Westen des Landes ist aber gering: Umfragen zufolge liegt sie im einstelligen Prozentbereich.
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