Seit vier Tagen liefern sich in der Türkei Demonstranten und Polizei Straßenschlachten. Die aktuellen Entwicklungen im Newsblog.
- Demonstranten sammeln sich in Istanbul, Auseinandersetzungen in Ankara: Am Abend sollen Demonstrationen auf dem zentralen Taksim-Platz in Istanbul fortgesetzt werden. Augenzeugenberichten zufolge haben Aktivisten Barrikaden auf den Zufahrtsstraßen errichtet, derzeit sollen sich bereits mehr als tausend Demonstranten auf dem Gelände befinden. Die Polizei hat die Straßen zum Istanbuler Büro des Ministerpräsidenten abgeriegelt, hält sich aber zurück. Dem TV-Sender Al-Dschasira zufolge ist ein Auto in Brand gesteckt worden, das Feuer soll allerdings rasch gelöscht worden sein.
- Zusammenstöße in Ankara und Istanbul: In der türkischen Hauptstadt feuerten Medien- und Augenzeugenberichten zufolge Einsatzkräfte Tränengas-Granaten auf etwa tausend Protestierende, die sich dem zentralen Kizilay-Platz näherten. Inzwischen sind einige U-Bahn-Stationen im Zentrum der Hauptstadt geschlossen worden. Auch in Istanbul ging die Polizei gewaltsam gegen Demonstranten vor. Am Abend sei im Stadtteil Besiktas Tränengas auf Demonstranten gefeuert worden, berichteten Aktivisten und türkische Medien. Tränengas zog auch bis auf den zentralen Taksim-Platz, wo Gegner Erdogans weiter die Stellung hielten. In Besiktas soll es den Angaben zufolge auch weitere Verletzte gegeben haben. Auch in Izmir, der drittgrößten Stadt des Landes, haben sich bereits Hunderte Demonstranten versammelt.
- Börse in Istanbul bricht ein: Wegen der eskalierenden Proteste gerät auch der Aktienmarkt in der Türkei unter Druck. An der Börse in Istanbul ist der National 30 Index am Nachmittag zeitweise um mehr als acht Prozent eingebrochen. Vor allem Finanzwerte waren betroffen. Auch die türkische Lira gab nach.
- Erdogan beschuldigt Opposition: Während im Land gegen seine Regierung protestiert wird, ist Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan zu einer Reise nach Nordafrika aufgebrochen. Am Montagnachmittag traf er in der marokkanischen Hauptstadt Rabat ein. Zuvor äußerte er sich vor der Presse. Dabei warf er der Opposition vor, die "Ergebnisse, die sie nicht an den Wahlurnen erreichen" nun auf anderem Wege anzustreben. Die Proteste würden von "extremen Elementen" gesteuert. Sein Rat an die Bevölkerung: "Bleiben Sie ruhig, entspannen Sie sich, all das wird sich wieder legen." Am Sonntag hatte Erdogan den Kurznachrichtendienst Twitter als "Bedrohung für die Gesellschaft" bezeichnet. Viele Aktivisten informieren sich über soziale Medien, weil die TV-Sender in ihren Augen nur unzureichend über die Proteste berichten. Über Twitter kamen aber auch falsche Gerüchte wie über den Einsatz von Agent Orange durch die Polizei in Umlauf.
- Oppositionschef bittet Präsident Gül um Intervention: Auch der parteiübergreifend anerkannte Staatspräsident Abdullah Gül hat sich am Montag wieder zu Wort gemeldet. "Demokratie bedeutet nicht allein Wahlen zu haben", erklärte der AKP-Politiker türkischen Medien zufolge. Am Abend hat Gül sich mit Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu getroffen. Der habe ihn auf seine verfassungsmäßigen Amtsvollmachten angesprochen, berichteten türkische Medien. Gül könne jederzeit das Parlament einberufen oder eine Kabinettssitzung unter seinem Vorsitz veranlassen.
- Demonstrant stirbt bei Unfall: Wie Reuters berichtet, hat es bereits am Sonntagabend ein erstes Todesopfer gegeben. Ein 20-Jähriger starb in Istanbul, nachdem ein Taxi auf der Stadtautobahn in eine Gruppe Demonstranten gefahren war, die eine Blockade errichtet hatten. Vier weitere Männer wurden bei dem Vorfall schwer verletzt. Der Tod des Mannes wurde erst jetzt von der türkischen Ärztevereinigung bestätigt.
- US-Außenminister Kerry kritisiert "übermäßigen Einsatz von Gewalt": Er sei "besorgt" angesichts von Berichten hat das Vorgehen der türkischen Polizei gegen Demonstranten, sagte Kerry. "Wir hoffen natürlich, dass es eine umfassende Untersuchung dieser Vorfälle geben wird", sagte der Außenminister. Kerry forderte sowohl die Demonstranten als auch die türkische Regierung auf, "jegliche gewaltsame Provokation zu vermeiden". Er wolle sich nicht in die inneren Angelegenheiten der Türkei einmischen, ihm gehe es vielmehr darum, "die allgemeingültigen Prinzipien und Werte der demokratischen Praxis" zu stützen. Zuvor hatte schon Kanzlerin Angela Merkel zur Deeskalation gemahnt. "Ein rechtsstaatliches Verständnis erfordert auch, dass die Sicherheitsbehörden stets verhältnismäßig und angemessen vorgehen", sagte Regierungssprecher Steffen Seibert in Berlin.
- Hintergrund: Seit einer Woche demonstrieren Aktivisten in Istanbul gegen die Zerstörung des Gezi-Parks am zentralen Taksim-Platz, der einem Einkaufszentrum weichen sollte. Seitdem die Polizei ein Protestlager gewaltsam geräumt hat, geht es aber längst um mehr: Inzwischen richten sich die Proteste vor allem gegen die als zu autoritär empfundene Politik Erdogans. Auch in anderen Städten kommt es seit Freitag immer wieder zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Polizei, die Tränengas und Wasserwerfer einsetzt. Mehr als 1700 Menschen wurden verhaftet, die meisten von ihnen sind inzwischen wieder auf freiem Fuß. Fast 500 Demonstranten mussten in Krankenhäusern behandelt werden. Inzwischen hat Erdogan angekündigt, dass auf dem Taksim-Platz eine Moschee gebaut werden soll. Das Innenministerium hat versprochen, Übergriffe der Polizei zu untersuchen.
- Mehr bei SZ.de: Süddeutsche.de hat die Motive der Demonstranten aufgeschrieben und SZ-Korrespondentin Christiane Schlötzer analysiert die Großbauprojekte der Erdogan-Regierung. Weitere Artikel finden Sie auf der Themenseite "Proteste in der Türkei".
Hintergrund-Links zum Thema:
- "Ein Baum stirbt, eine Nation steht auf": Die internationale Bürgermedien-Plattform Global Voices hat Tweets und Meinungen zur Situation in Istanbul gesammelt.
- "Wie demokratisch ist die Türkei?", fragt das US-Magazin Foreignpolicy.com. "Die Türkei ist im Prinzip ein Ein-Parteien-Staat geworden", urteilen die Autoren. Die Wut der Demonstranten richte sich gegen "den Kumpanen-Kapitalismus, die Arroganz der Macht und die Intransparenz der AKP-Maschinerie." Details zu den umstrittenen Bauprojekten in Istanbul finden sich ebenfalls bei Foreignpolicy.com.
- "Die Demonstrationen sind ein Reifezeugnis für die Türken. Sie haben ihrer eigenen Regierung die Grenzen aufgezeigt." Dieses und andere Zitate aus deutschen Zeitungskommentaren finden sich in der Presseschau des Deutschlandfunks.
- Fehlende Transparenz beim Friedensprozess mit den Kurden, die gefühlten Einschränkungen durch Gesetze wie das Alkoholverbot und die Frage nach der weiteren Entwicklung der AKP: Diese drei Faktoren sind nach Meinung des türkischen Journalisten Yavuz Baydar entscheidend für die aktuellen Proteste. Baydar hat seine Argumente ausführlich im Guardian aufgeschrieben.
- Bereits mehr als 1200 Kommentare hat ein Blogeintrag, der die Situation in Istanbul aus Sicht der Demonstranten schildert. Dort heißt es etwas pathetisch: "Sie kamen aus verschiedenen Milieus, haben unterschiedliche Ideologien und Religionen. Sie versammelten sich, um die Zerstörung von etwas größerem als dem Park zu verhindern: dem Recht, als ehrenwerte Bürger dieses Landes zu leben."
- "Die Proteste zeigen, dass die türkische Demokratie erwachsen wird und die Zivilgesellschaft inzwischen dort verwurzelt ist", analysiert der Economist, der auf die Hintergründe der Demonstrationen eingeht.
- Elif Batuman, Korrespondentin des New Yorker, beschrieb bereits am Samstag ihre Erlebnisse in Istanbul. Weil Batuman eine Kennerin der örtlichen Ultra-Szene ist, sind vor allem die Passagen über die Rolle der Fußballanhänger bei den Protesten lesenswert." Der Widerstand hat die Anführer (der Ultra-Gruppen; Anm. d. Red.) von Galatasaray und Fenerbahçe dazu gebracht, sich zu verbünden", zitiert sie ein führendes Mitglied einer Fenerbahçe-Ultra-Gruppe.
- Das Magazin Vice berichtet gewohnt subjektiv von den Protesttagen in Istanbul.
- Inzwischen gibt es zahlreiche Interviews zu den Protesten. "Die türkische Polizei ist nicht geschult darin, deeskalierend zu wirken", sagt Vasif Kortun, Direktor des Kultur- und Forschungsinstituts SALT in Istanbul, im Gespräch mit Zeit Online. Er erklärt den zunehmend autoritären Kurs der AKP-Regierung. Der Alltagsreporter hat eine Aktivistin interviewt, auch auf Youtube finden sich solche Gespräche, unter anderem von Sympathisanten oder der BBC.
- Die meistbenutzten Hashtags sind #occupyturkey, #occupygezi, #direngeziparki und #direnankara. Es gibt auch eine Twitter-Liste mit englischsprachigen Quellen zu den Vorgängen in der Türkei. Storyful hat eine Playlist mit Youtube-Videos der Proteste erstellt.
- Eine interaktive Karte zeigt, wo in Istanbul Demonstrationen stattfinden oder Straßensperren errichtet wurden.