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Proteste in der Türkei:Unmut gegen Erdogans Königreich

Anfangs ging es nur um einen Park in Istanbul, doch inzwischen gehen überall in der Türkei Menschen auf die Straße. Sie protestieren gegen den brutalen Polizeieinsatz - und gegen die selbstherrliche Politik von Premier Erdogan. Ihr Vorwurf: Dieser nehme auf Kritik keine Rücksicht und wolle den Staat umbauen. Ein Überblick.

Mit Wasserwerfern und Tränengas gehen Polizisten in der Türkei gegen Demonstranten im Zentrum Istanbuls vor. Auch in anderen Städten protestieren Bürger gegen die islamisch-konservative Regierung von Premierminister Erdogan. Ein Überblick über die Hintergründe.

Was hat die Proteste ausgelöst?

"Überall ist Taksim", skandieren die Bürger. Die aktuellen Demonstrationen in der Türkei gehören zu den heftigsten seit dem Amtsantritt von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan im Jahr 2003. Im Gezi-Park in Istanbul, nahe dem zentralen Taksim-Platz, begann es: Bäume und Grünflächen sollten hier einem Einkaufszentrum weichen, obwohl Stadtplaner, Wissenschaftler und linke Politiker kritisierten, dass es der Millionenstadt an Parks fehle.

Als Hunderte Demonstranten versuchten, das Bauvorhaben mit einem Protestcamp zu verhindern, wurden sie am Freitag von der Polizei gewaltsam vertrieben. Seither sind die Menschen auch in zahlreichen anderen türkischen Städten auf den Straßen - und ihre Proteste richten sich jetzt grundsätzlich gegen die Politik der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP von Premierminister Recep Tayyip Erdogan.

Wie will Premierminister Erdogan die Türkei verändern?

Kritiker werfen der Regierung in Ankara und der ebenfalls von der Regierungspartei AKP geführten Istanbuler Stadtverwaltung vor, sich ohne die notwendigen Konsultationen mit Betroffenen oder Verbänden in das Park-Projekt zu stürzen. Dies ist kein Einzelfall, Erdogan setzt zurzeit auf etliche Großprojekte - für ihn ein Symbol für den wirtschaftlichen Wiederaufstieg der Türkei. So sind Neubauten von insgesamt 80 Milliarden Dollar geplant, unter ihnen eine dritte Autobahnbrücke in Istanbul, die etwa 1,5 Milliarden Dollar kosten soll.

Die nach einem Osmanenherrscher aus dem 16. Jahrhundert benannte "Yavuz-Sultan-Selim"-Brücke soll in zwei Jahren fertiggestellt werden, kündigte Erdogan am Mittwoch an. Bei der feierlichen Grundsteinlegung der Brücke wurde versprochen, die Arbeiten exakt am 29. Mai 2015 abzuschließen - dem Jahrestag der Eroberung der Stadt durch die muslimischen Osmanen im Jahr 1453.

In Istanbul soll zudem ein dritter Flughafen und ein Straßen- und Eisenbahntunnel unter dem Bosporus gebaut werden; ein Hochgeschwindigkeitszug soll Istanbul mit der türkischen Hauptstadt Ankara verbinden. Die Türkei durchlebte Anfang des 21. Jahrhunderts eine schwere Wirtschaftskrise. Erdogan unterzog das Land im Gegenzug für Milliardenhilfen des Internationalen Währungsfonds einem strikten Reformprogramm. Seither hat sich das Bruttoinlandsprodukt fast verdreifacht und die Türkei gehört heute zu den 20 stärksten Volkswirtschaften der Welt.

Der 59-Jährige spaltet die türkischen Wähler. Die einen lieben ihn, die anderen hassen ihn. Populär ist er nach wie vor - umstritten war der Charismatiker mit einem Hang zum Größenwahn stets. Erdogan sei "ein Emporkömmling aus den Docklands von Istanbul, Spross einer frommen Familie", heißt es in einem SZ-Porträt: "Ein 'schwarzer Türke', wie sie in Istanbuls feineren Kreisen sagen; einer, der erst einmal nichts zu tun hat mit der türkischen Bürokraten- und Militärbourgeoisie."

Der strenggläubige Muslim begann seine politische Karriere in der rechtsgerichteten islamischen Nationalen Heilspartei (MSP). 1983 wechselte er in die ebenfalls islamisch ausgerichtet Wohlfahrtspartei (RP), mit der er 1994 zum Bürgermeister von Istanbul gewählt wurde. In diesem Amt verfolgte Erdogan die Idee einer "sauberen und anständigen Bosporus-Metropole" und fand dafür Zustimmung in breiten Bevölkerungsschichten.

Zwischen dem einflussreichen Militär, das sich als Garant der strikten Trennung von Staat und Religion sieht, und der Wohlfahrtspartei bestand ein tiefes Misstrauen. 1998 wurde Erdogan wegen "Volksverhetzung" zu einer mehrmonatigen Haft verurteilt. Beobachter sprachen dabei von politischer Unrechtsjustiz. 2001 gründete er die AKP, die ein konservatives Sammelbecken "demokratischer Muslime" werden sollte, und feierte bei der Parlamentswahl 2003 einen überragenden Sieg.

Wird die türkische Gesellschaft konservativer?

Als Ministerpräsident setzte Erdogan die Westorientierung der Türkei fort - gleichzeitig ist das Land unter ihm in mancher Hinsicht konservativer geworden: Bei der Fluglinie Turkish Airlines wird auf einigen Strecken kein Alkohol mehr ausgeschenkt; zudem tragen dort seit kurzem auch weibliche Angestellte Kopftuch. Zudem arbeiteten die AKP sowie die nationalkonservative Oppositionfraktion MHP an einer Verfassungsänderung, die es ermöglichen sollte, das Kopftuchverbot an Universitäten aufzuheben. In der U-Bahn fordern Durchsagen die Fahrgäste dazu auf, "sich der Moral entsprechend zu verhalten" - wogegen zuletzt hunderte Studenten in Ankara mit einer öffentlichen "Kuss-Aktion" protestiert hatten.

Unterdessen versucht Erdogan den Staatsumbau: Er will ein Präsidialsystems nach US-Vorbild einführen, die AKP hat dem Parlament den Vorschlag bereits unterbreitet. Beobachter werten das als Versuch des 59-jährigen Regierungschefs, weiter an der Macht zu bleiben. Nach Ablauf seiner Amtszeit im Jahr 2015 darf Erdogan nicht erneut als Premier kandidieren. Aber er könnte 2014 für das Präsidentenamt antreten - und dieses deshalb mit weitgehenden Machtbefugnissen versehen wollen.

Erdogan selbst ist Abstinenzler, seine Regierung verschärfte vergangene Woche die Alkohol-Vorschriften: Ein neues Gesetz sieht neben einem Werbe- ein Verkaufsverbot zwischen 22 Uhr abends und sechs Uhr morgens vor. Die Hersteller dürfen keine Veranstaltungen sponsern und müssen auf ihren Produkten vor den Folgen des Alkoholkonsums warnen. Die AKP begründet die Maßnahme mit dem Jugendschutz und argumentiert, sie wolle die Türkei so den europäischen Standards näher bringen. Die Opposition wirft Erdogans Regierung jedoch vor, dem Land einen islamischen Lebensstil aufzwingen zu wollen. Der Islam verbietet den Alkoholkonsum.

Nicht nur wegen Vorschriften zum Alkoholkonsum empfinden viele Türken die Regierung als zu autoritär. Die Kritik an der Unterdrückung der Presse - und Meinungsfreiheit wird immer lauter. Viele türkische Fernsehsender berichteten auffällig zurückhaltend über die aktuellen Demonstrationen in Istanbul. Der türkischen Polizei wird seit längerem vorgeworfen, auch bei friedlichen Protesten mit übertriebener Härte zu reagieren. Bei den aktuellen Ausschreitungen in Istanbul spricht die Menschenrechtsorganisation Amnesty International inzwischen von mehr als 100 Verletzten, mehrere Oppositionsparteien fordern ein Ende des Polizeieinsatzes.

2005 gingen die Beamten in Istanbul brutal gegen eine Frauendemonstration vor. Erdogan kommentierte das damals lapidar mit: "Freiheit hat ihre Grenzen." In keinem Land, so sein Argument, werde allein den Demonstranten überlassen, wo sie demonstrierten. Als in Ankara kürzlich hunderte Studenten gegen Erdogans Syrien-Politik protestieren, löste die Polizei die Demonstration mit Tränengas und Wasserwerfern auf. Dass der aktuelle Polizeieinsatz in Istanbul unangemessen hart gewesen ist, hat Erdogan unterdessen eingeräumt - und schob nach: "Jeder hat in diesem Land verfassungskonforme Meinungsfreiheit, das möchte ich nochmals betonen. Aber keiner hat das Recht, seinen Extremismus auszuleben, nur weil ein paar Bäume gefällt werden."

Wie geht es weiter?

Die Polizei werde am Samstag und Sonntag in Istanbul präsent bleiben, sagte Erdogan in einer Rede im Fernsehen. Die gewählte Regierung werde sich nicht einer Minderheit beugen. Allerdings zogen sich die Polizisten am Samstagnachmittag vom Taksim-Platz zurück. Die Demonstranten zeigen sich optimistisch.

Koray Caliskan, Politikwissenschaftler an der Bosporus Universität, hält die Situation für einen möglichen "Wendepunkt" für die AKP. Er sagte dem britischen Guardian: "Erdogan ist ein sehr selbstbewusster und konservativer Politiker, er hört auf niemanden mehr. Aber er muss einsehen, dass die Türkei nicht sein Königreich ist."

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