Proteste in der Türkei:Erdogan der Große

Proteste in der Türkei: Während in der Heimat gegen ihn demonstriert, reist Türkeis Premierminister Recep Tayyip Erdogan durch Nordafrika.

Während in der Heimat gegen ihn demonstriert, reist Türkeis Premierminister Recep Tayyip Erdogan durch Nordafrika.

(Foto: AFP)

Seit Jahren macht Ministerpräsident Erdogan Politik nach dem Motto "Ein jeder soll nach meiner Façon selig werden". Erst jetzt sind viele Menschen aufgewacht. Mit ihren Protesten stellen sie Erdogans Demokratie-Fähigkeit auf die Probe.

Ein Gastbeitrag von Ayse Kulin

Ayse Kulin, Schriftstellerin, geboren 1941 in Istanbul als Tochter eines Bosniers und einer Tscherkessin. Im deutschen Sprachraum erscheinen ihre Bücher im Unionsverlag. Seit 2007 ist sie ehrenamtliche Unicef-Botschafterin.

Im Türkischen gibt es die Redewendung: "Den Fluss überqueren, im Bach ertrinken". Sie passt auch gut zu den Ereignissen, die sich in diesen Tagen auf jenen Straßen abspielen, die hinauf zum Taksim-Platz in Istanbul führen.

Seit Beginn dieser Ereignisse frage ich mich, warum Premierminister Tayyip Erdogan es wohl nicht schafft, mit den harmlosen Demonstrationen von jungen Leuten gegen die Abholzung einiger alter Bäume fertigzuwerden. Der Mann hat im Fall des Kurden-Konflikts so mutig die Heilung einer seit 30 Jahren blutenden Wunde versucht, er hat dafür viel Anerkennung geerntet. Aber diese Demonstrationen überfordern ihn? Liegt es vielleicht daran, dass er nicht umzugehen weiß mit einer Zustimmungsrate von fast 50 Prozent der Wählerstimmen? Längst geht es nicht mehr bloß um einen Park.

Was derzeit passiert, ist das Entweichen des Dampfes aus einem Kochtopf, der zu heiß geworden ist. Zu erleben ist ein Premierminister, der eine beachtliche Gruppe von Menschen, die nicht seiner Meinung sind und die nicht seine Lebensgewohnheiten teilen, durch beharrliches Diktieren seiner Anschauungen, seines Geschmacks und seines Lebensstils aufgeheizt hat. Jetzt wundert er sich, dass der Siedepunkt erreicht ist.

Der Protest geht über ein paar Bäume hinaus

Man hat die Zelte von Istanbulern angezündet, die nur deshalb in einem Park nächtigten, weil sie die Bäume um den Taksim-Platz schützen wollten, dem einzigen Ort des Stadtviertels, an dem man ein bisschen Luft schöpfen kann. Mit Tränengas und Wasserwerfern versucht man, Menschen zum Schweigen zu bringen, die sich mit nichts anderem schützen können als mit selbstgebastelten, primitiven Gasmasken, die sich weder mit Steinen noch mit Stöcken zur Wehr setzen und nichts anderes tun als zu schreien: "Erdogan - Rücktritt".

Inzwischen beteiligen sich auch Menschen in anderen Städten an den Protesten, Menschen, die den Park am Taksim in ihrem Leben noch nie gesehen haben. Einige der Orte des Protests liegen in eher konservativen Provinzen. Ihre Aktionen haben eine andere Botschaft. Sie lautet: Ihr mögt mit 50 Prozent aller Stimmen an die Macht gekommen sein, aber ihr könnt diejenigen, die euch nicht ihre Stimme gegeben haben, nicht einfach übergehen! Das ist es, was die Menschen sagen. Hinter dieser Erhebung stehen keine Verschwörer und keine geheimen Mächte. Dies ist nur die Stimme der Menschen dieses Landes, die genug haben von Unterdrückung und willkürlichen Entscheidungen.

Medienzensur sollte es 2013 nicht mehr geben

Die Ereignisse haben uns Türken auch eine andere Tatsache vor Augen geführt: Wir haben gemerkt, dass wir das, was passiert, nur aus den ausländischen Medien erfahren. Dies ist auch ein Grund, warum die Protestierer die sozialen Medien benutzen: um die Aufmerksamkeit eben dieser ausländischen Medien zu wecken. Denn unsere Medien, unsere Fernsehsender und unsere Zeitungen spiegeln nur die Meinung der Regierung wider. Es gibt starke Verbindungen zwischen den Herausgebern der Medien und der Regierung. Szenen der Gewalt unterlagen auch im Fernsehen der Zensur. Das sollte es im Jahre 2013 nicht geben.

Das scheint letztlich auch die Regierung begriffen zu haben, denn der Premierminister hat mittlerweile seinen Ton geändert. Am Morgen des 2. Juni, an dem ich diese Zeilen schreibe, liegen zwar die Plätze der großen Städte im Chaos - in deren Umgebung aber ist es ruhig. Seit der Nacht davor sagen die Regierungssprecher mit sanfter Stimme, dass ein Missverständnis zwischen der Regierung und dem Volk vorliege. Das ist gut. Aber in den Morgenstunden des Samstags sagte unser Premierminister im Fernsehen auch: "Wenn die mit einhundert Leuten kommen, sammele ich hunderttausend!"

Das ist sehr, sehr schlecht. Wer sind "die"? Sind es die, die seiner Partei ihre Stimme nicht geben? Und wer sind die Hunderttausenden, die der Premierminister zu sammeln verspricht? Sind es diejenigen, die seiner Partei ihre Stimme geben?

Darf ein Premier sein Volk in "die" und "wir" teilen?

Oder sind es diejenigen, die seit langer Zeit wegen des Einflusses der Regierung auf die Justiz beunruhigt sind? Oder die, die darüber besorgt sind, dass man bei einem Schuleintrittsalter von fünf Jahren Mädchen schon mit neun Jahren wieder aus der Schule nehmen kann, während man eigentlich erwartet hatte, dass die allgemeine Schulpflicht auf zwölf Jahre angehoben würde? Oder sind es die, die sich Sorgen machen, weil jene Internats-Grundschulen nun geschlossen werden sollen, die einst gegründet wurden, um Kindern aus Kleinstädten und Dörfern eine Schulausbildung zu sichern? Oder sind es jene Istanbuler, die schmerzt, dass ein historisches Kino, das ihnen sehr am Herzen lag, abgerissen wurde, um einem Einkaufszentrum Platz zu machen? Oder diejenigen, die bei dem Projekt, auf dem Çamlica-Hügel in Istanbul eine Moschee zu bauen, in keiner Weise beteiligt wurden? Oder sind es die, die wütend über die Alkohol-Gesetze sind? Die über den Zustand der Stadt-theater weinen? Wer sind die, die sich den Hunderttausenden des Premierministers entgegenstellen?

Hat ein Premierminister das Recht, das Volk in "die" und "wir" zu teilen? Und dies dazu noch in einer Zeit, in der einige Gruppierungen allen Ernstes versuchen, das Volk in Türken und Kurden zu spalten, während doch derselbe Premierminister ernsthaft bemüht ist, eine Lösung dieses Problems zu finden? Die Regierung schützt nicht diejenigen, die anderer Meinung sind als sie. Das zeigte sich an ihrer halbherzigen Reaktion nach dem Anschlag auf alevitische Bürger in Reyhanli, der Grenzstadt zu Syrien. Das zeigt sich daran, wie die Regierung den Konsum von Alkohol zu beschränken versucht. Das zeigt sich daran, wie schwer es Unternehmen haben, die politisch eine andere Farbe verkörpern als die Regierung. Die türkische Regierung schützt Minderheiten nicht nur nicht. Sie versucht, sie zu zerstören.

Die Istanbuler stellen Erdogan mit den Bäumen in dem Park am Taksim auf die Probe. Sie prüfen seine Demokratie-Fähigkeit. In einer wahren Demokratie ist es doch so, dass die Bürger die Initiativen der Regierung hinterfragen und beeinflussen können. Eine wahre Demokratie erlaubt Proteste und geht nicht mit exzessiver Gewalt gegen ihre Bürger vor. In einer wahren Demokratie sind die Medien unabhängig und berichten ausgewogen über das, was passiert. Eine wahre Demokratie hält die Unterschiede in der Gesellschaft und die Minderheiten in Ehren. Von ganzem Herzen wünsche ich mir, dass Erdogan mit guten Noten für seinen gesunden Menschenverstand aus dieser Demokratie-Prüfung hervorgeht.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: