Proteste in der Türkei:Erdogan, der Autokrat

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Sie protestieren nicht nur gegen ein Bauprojekt oder Polizeibrutalität: Die Menschen in der Türkei haben den Größenwahn satt, der an allem haftet, was Erdogan anfasst. Der machtbesoffene Premier treibt ein gefährliches Spiel: Im wichtigsten Augenblick seiner Regierungszeit entschied er sich dafür, vollends zum Autokraten zu werden.

Ein Kommentar von Stefan Kornelius

Seitdem Recep Tayyip Erdogan Premierminister der Türkei ist, begleitet ihn das Misstrauen. Dieses Misstrauen lässt sich auf eine simple Frage reduzieren: Wie viel Demokrat steckt in dem Mann? Ursprünglich nährte sich das Misstrauen aus den religiösen Wurzeln Erdogans und vor allem aus dem religiösen Charakter seiner gemäßigt islamischen AKP. Die Furcht vor einer Islamisierung der Türkei bestimmte die erste Phase seiner schon zehn Jahre dauernden Regentschaft.

Erdogan schleifte in dieser Zeit mit brutalen Mitteln die Festen des Militärs und zwang die Generalität unter das Primat der Politik. Er spielte mit dem islamischen Charakter der Türkei, vor allem in seiner Außenpolitik. Die Türkei sollte ein Vorbild sein für eine zwar säkulare, aber dennoch islamisch geprägte Gesellschaft. Sie sollte so eine Leitrolle übernehmen in der Region. Diese islamische Versuchung war eine Ursache des Widerstands, den die Konservativen in Frankreich und Deutschland gegen eine Annäherung der Türkei an die EU mobilisierten.

Heute ist klar, dass weniger der Islam die große Verlockung für Erdogan darstellt. Es ist die Macht an sich, die pure Lust an der Herrschaft, die ihm zu Kopf gestiegen ist. Erdogan hat kontinuierlich seine Machtbasis erweitert. Seine Gefolgsleute sitzen in Justiz und Wirtschaft, die Medien überschlagen sich in Ehrbezeugungen. Im Apparat scheint es keinen Widerspruch mehr zu geben. Aus dem frommen Demokraten ist ein Autokrat geworden. Einmal sagte Erdogan, Demokratie sei wie ein Zug - wenn der im Bahnhof angekommen sei, könne man auch aussteigen. Hat das Vehikel Demokratie also aus Erdogans Sicht die Endstation erreicht?

Ausschreitungen in der Türkei
:Mit Tränengas gegen Demonstranten

Erstmals seit Beginn der Protestwelle räumen Polizisten mit Gewalt den Istanbuler Taksim-Platz. Schon in der Nacht zuvor standen sich auch in Ankara Einsatzkräfte und Demonstranten gegenüber. Die Atmosphäre rund um die Zentren der Ausschreitungen in Bildern.

Vieles spricht dafür, dass der Premier in einer eigenen Realität lebt. In dieser Realität gibt es wenig Platz für Demokratie. Erdogans Welt besteht aus oben und unten, sie ruht auf der puren Macht und ihrer Durchsetzung. Der ständige Austausch mit dem Volk, der permanente Abgleich mit der anderen Meinung ist in diesem System nicht vorgesehen.

2015 darf Erdogan eigentlich nicht mehr antreten

Deswegen hat sich der Premier nun entschieden, diesen Aufstand der Ungehörten im Herzen Istanbuls mit Gewalt zu beenden. Diese Menschen protestieren nicht nur gegen ein Bauprojekt oder Polizeibrutalität. Sie haben den Größenwahn satt, der an allem haftet, was Erdogan anfasst. Erdogan sieht sich hingegen zu seiner Politik legitimiert. Die Verhältnisse sind seit der Parlamentswahl 2011 eindeutig geklärt. Ein drittes Mal, 2015, darf er nicht antreten, es sei denn, er lässt die Parteistatuten ändern. Also muss er jetzt für die Verhältnisse sorgen, die er entweder hinterlassen oder in anderer Funktion - als Präsident - wieder vorfinden möchte.

Es sind diese autoritären Allüren, die eine nicht geringe Zahl der Türken empören. Immerhin haben die Hälfte der Menschen in der Türkei Erdogan nicht gewählt. Selbst in seiner AKP finden sich beachtenswerte Fraktionen, die Erdogans Sultanat ablehnen. Denn darum geht es: Riskiert dieser machtbesoffene Premier das kemalistische Erbe seines Landes? Wäre Erdogan bereit, die von Atatürk hinterlassene säkulare Ordnung zu stürzen und der Türkei ein islamisch eingefärbtes, autoritäres System aufzuzwingen?

Der türkische Ministerpräsident Erdogan am gestrigen Dienstag bei einem Treffen seiner Partei AKP in Ankara (Foto: dpa)

Erdogan hat sich in eine verheerende Lage manövriert. Nach den herrschenden Regeln kann er nicht mehr für das Premierministeramt kandidieren. Für eine Verfassungsänderung zugunsten einer Präsidialdemokratie nach französischem Vorbild fehlt ihm wohl die Mehrheit. Und die bisher geltende Volkswahl für das Präsidentenamt würde er nicht gewinnen.

Was also bleibt ihm, wie weit wird er gehen in seinem Belastungstest für die türkische Gesellschaft? Es gibt die breite Schicht der Modernitätsgewinnler; und es gibt die große Gruppe der einfachen oder ländlich geprägten Muslime. Wird er die Lager gegeneinander aufbringen? Und unterschätzt er dabei nicht die Kraft der Demografie? Die Türken sind ein junges Volk, das in seiner Mehrheit die Zeit der Militärdiktatur gar nicht mehr im Bewusstsein hat. Hingegen haben alle am Wohlstand geschnuppert, der sich - gerade unter Erdogan - bis in die hinteren Winkel des Staates ausgebreitet hat. Dieser ist nun gefährdet.

Der Premier wird nur einen Scheinsieg erringen

Erdogan treibt ein gefährliches Spiel. Er fordert die protestierende Menge auf, sich seinem autoritären Stil zu fügen. Er zieht der Demokratie neue Grenzen. Protest und abweichende Meinung stoßen auf Tränengas und Staatssicherheit. Möglicherweise wird der Premier damit seine Autorität auf den Plätzen Istanbuls und im Land wieder herstellen - aber das wird ein Scheinsieg sein. Wirklich stark wird er so nicht werden. Erdogan hat sich im wichtigsten Augenblick seiner Regierungszeit dafür entschieden, nun vollends zum Autokraten zu werden.

© SZ vom 12.06.2013/ratz - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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