In Camlica, auf der asiatischen Seite Istanbuls, wo der Regierungschef auf dem höchsten Hügel der Stadt eine pompöse, weithin sichtbare Großmoschee bauen will, waren sie nachts um drei Uhr auf der Straße. Sie haben mit Löffeln auf Teekessel geschlagen, erst zaghaft und dann immer lauter. Camlica ist sonst ein ruhiges Viertel, weit weg vom quirligen Taksim-Platz im Zentrum der 15-Millionen-Metropole, wo die Proteste vor nun einer Woche friedlich begannen. Da ging es noch um 600 Bäume, um eine kleine Zeltstadt von Parkschützern, Stuttgart 21 alla turca.
Jetzt aber geht es um den Frieden im ganzen Land, es geht um Premier Recep Tayyip Erdogan und seinen autoritären Stil, um das Sultansgehabe des Mannes, der seit zehn Jahren die Türkei regiert, der für ihr aktuelles Wirtschaftswunder mitverantwortlich ist und der seine Karriere 2014 mit dem Präsidentenamt krönen will. Und es geht um Wünsche nach Bürgerbeteiligung, um Respekt für Andersdenkende und die Angst vor einer schleichenden Islamisierung der Türkei.
Tränengas wabert auch am frühen Sonntagmorgen noch durch die Luft im Istanbuler Innenstadtbezirk Besiktas, aber Regen hat eingesetzt und reinigt die Atmosphäre. Die meisten Demonstranten sind nach Hause gegangen, um ein wenig Ruhe zu finden. Einige haben angefangen, den zentralen Taksim-Platz und den kleinen Gezi-Park zu reinigen, wo die Schlacht begann. Auch in der Nacht zum Sonntag ist die Polizei noch einmal gegen Gruppen meist jugendlicher Protestierender vorgegangen, in Istanbul wie in der Hauptstadt Ankara. Aber im Herzen Istanbuls, auf dem Taksim, ist es ruhig geblieben, nachdem am Samstagnachmittag dort die gepanzerten Polizeiwagen abgezogen waren.
Gemeinschaftliche Freudentänze
Freudentänze gab es danach auf dem Taksim: Kurden neben Nationalisten mit türkischer Fahne. Fußballfans der verfeindeten Istanbuler Clubs Fenerbahce, Besiktas und Galatasaray sagen gemeinsam: "Schulter an Schulter gegen Faschismus".
Nun werden erste Bilanzen gezogen. Innenminister Muammer Güler sprach bereits am Samstag von 90 Demonstrationen in 48 Städten und 939 Festgenommenen, von denen viele schon wieder in Freiheit seien. Mediziner zählten in Istanbul mehr als 1000 Verletzte, dazu einige Hundert in Ankara. CNN Türk zeigte Fotos von Wunden durch Plastikgeschosse. Die Polizei hatte sogar aus Hubschraubern Tränengas versprüht. Sie hatte viele Menschen mit Wasserwerfern regelrecht niedergemäht.
Junge Leute rüsteten sich bereits am Samstag mit Gasmasken aus - und mit Zitronen und Milch gegen das Gas, so wie es die Protestierenden im arabischen Frühling auf dem Tahrir-Platz in Kairo gemacht hatten. Und wie einst die Demonstranten in Ägypten, so folgten Hunderttausende in Istanbul und in den vielen anderen Städten der Türkei Aufrufen über Twitter (#occupygezi) und Facebook, Solidaritätskundgebungen gab es von New York bis München. Den offiziellen Medien trauen immer weniger Türken. Zu viele prominente Journalisten wurden auf mehr oder minder direkten Druck der Regierung entlassen. Sie befeuern nun kräftig das Internet.
Der Premier tut lange so, als wäre nichts passiert. Am Samstag tritt Erdogan vor türkischen Exporteuren auf und redet die Proteste klein: Was entschieden sei, werde durchgesetzt. Der Taksim dürfe "kein Ort sein, an dem Extremisten machen können, was sie wollen", sagt der Regierungschef. Die Polizei werde in Stellung bleiben.
"Erdogan hat nicht verstanden, was vor sich geht, und er will es auch nicht verstehen", meint Cengiz Aktar, der an der Istanbuler Bahcesehir-Universität europäische Politik lehrt. "Dies ist ein urbaner Protest, fast ein Aufstand, und Erdogan handelt nach dem Motto, wir sind die Mehrheit und wir werden unseren Willen bekommen", kritisiert Aktar. "Die Regierung zeigt keine Dialogbereitschaft."
Noch am Freitag hatte der Istanbuler Abgeordnete der regierenden AKP, Sirin Ünal, getwittert, "offenbar brauchen ein paar Leute ein wenig Gas". Aber wie schon so oft, wenn sich Erdogan halsstarrig zeigt und die Regierung vor ihrem autoritären Chef kuscht, mischt sich der türkische Präsident ein. Abdullah Gül nahm früher schon Journalisten oder Blogger in Schutz, am Samstag ruft er zur allgemeinen Mäßigung auf. Die Proteste hätten ein "besorgniserregendes Niveau" erreicht, erklärt Gül.
Demonstranten beklagen Polizeigewalt
Er verlangt von der Polizei, "angemessen" zu reagieren. Erst nach dieser Ermahnung zieht die Polizei vom Taksim ab, und Erdogan räumt auf einmal ein, einige Beamte hätten "extrem" auf die Demonstranten reagiert. Das Innenministerium warnt nun "unverhältnismäßig" agierende Beamte vor rechtlichen Folgen. Zuvor gab es schon besorgte Stellungnahmen aus Washington, Brüssel und Berlin. Amnesty international und andere Menschenrechtsorganisationen beklagten die "exzessive Polizeigewalt".
Demonstranten hielten in Istanbul auch Bierdosen hoch, aus Protest gegen das jüngst vom Parlament gebilligte strenge Alkoholgesetz, unter dem noch die Unter-schrift des Präsidenten fehlt. Es enthält ein totales Werbeverbot für Alkoholisches, von 22 Uhr bis sechs Uhr morgens dürfen Raki, Wein und Bier in Läden und Kiosken nicht mehr verkauft werden. Erdogan begründete das Gesetz mit dem Jugendschutz. Zuletzt aber ließ er andere Motive erkennen.
Vor seiner AKP-Fraktion sagte er: Wenn die Religion etwas diktiere, "was wahr ist, warum soll man dagegen sein?" Wer trinken wolle, könne dies ja "zu Hause" tun. Seit diesen Worten Erdogans sehen sich diejenigen bestätigt, die schon länger fürchten, dem Premier gehe es um eine Islamisierung der Türkei. Der Autor Kadri Gürsel sprach von einem "historischen Bruchpunkt". Im Internet-Magazin Monitor warnte er vor "sozialem Druck".
Nicht einmal allen AKP-Anhängern gefällt das Gesetz, das so umstritten ist wie die Baumfällaktion am Taksim. Ahmet, 32, ist Kellner in einem Gartenlokal in Izmit, einer Stadt mit 300 000 Einwohnern, gut 100 Kilometer von Istanbul entfernt. Auch dorthin ist der Funke vom Taksim übergesprungen. Ahmet sagt, seine Frau trage Kopftuch, er trinke keinen Alkohol, das neue Gesetz aber sei "absurd". Erdogan sei "zu hitzig". Eine andere Stimme aus dem Volk: Halil, 25, Elektriker in Izmit, sagt: Eine neue, kleine Elite in der Türkei verschaffe sich Privilegien, und die Regierung glaube, "die Menschen seien konservativer geworden, aber das stimmt nicht". Es sei "ein Wunder", meint der Mann, "dass viele Leute so lange stillgehalten haben".