Proteste in der islamischen Welt:Aufstand der Suchenden

Botschaften werden gestürmt, ein Diplomat ermordet, Flaggen zerrissen - eine Demütigung für die USA. Doch der Zorn erschließt sich nur bedingt, an vielem trägt Washington keine Schuld. Die Proteste gegen das Mohammed-Video zeigen vielmehr, dass ein demokratischer Naher Osten in ebenso weiter Ferne liegt wie vor dem Arabischen Frühling.

Tomas Avenarius

Welche Demütigung: Der Präsident und 310 Millionen Amerikaner müssen zusehen, wie US-Diplomaten ermordet, Botschaften in Brand gesetzt werden, wie die Flagge zerrissen wird, bevor ein entfesselter Mob die schwarze Islamisten-Fahne mit dem weißen Schriftzug hisst: "Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist sein Prophet."

Proteste in der islamischen Welt: Vor der US-Botschaft in der tunesischen Hauptstadt Tunis protestieren Hunderte gegen das umstrittene Mohammed-Video.

Vor der US-Botschaft in der tunesischen Hauptstadt Tunis protestieren Hunderte gegen das umstrittene Mohammed-Video.

(Foto: AFP)

Seit der Botschaftsbesetzung in Iran des Ayatollah Khomeini sind die Vereinigten Staaten nicht mehr so erniedrigt worden im Nahen Osten. Die Vorgänge von 1980 belasten das amerikanisch-iranische Verhältnis bis heute; Politik ist unmöglich geworden und wird durch Drohgebärden ersetzt. Anderswo in der arabischen Welt könnte es ähnlich verlaufen.

Doch während in Teheran noch klar war, welchen Anlass die Aggression der Ayatollahs hatte - die Amerikaner hatten bis zum bitteren Ende zum gestürzten Schah gestanden -, erschließt sich heute der Zorn nur bedingt. Gerade in Libyen: Dort haben US-Piloten den Diktator in den Untergang gebombt. Und der in Bengasi umgekommene US-Botschafter zeigte sich als Freund der neuen arabischen Welt. Obamas USA zählen zu den Geburtshelfern des Nach-Gaddafi-Libyens.

Die Radikalen sind in der Minderheit

Die Gewalt richtet sich ebenso wenig gegen die als amerikanisch wahrgenommenen Eigenheiten: Die Jemeniten und Ägypter, die Brandsätze auf US-Botschaften werfen, telefonieren sich mit dem iPhone zusammen und erfrischen sich nach der Randale mit einer Coca-Cola.

Wichtiger als westliche Selbstbespiegelung ist, was in Ländern wie Ägypten oder Tunesien selbst abläuft zwischen radikalen und gemäßigten Islamisten. Die eifernden Salafisten beanspruchen die Deutungshoheit darüber, wie die neue arabisch-islamische Welt aussehen soll. Nicht moderat, wie es die Muslimbrüder (angeblich) wollen, sondern "koranisch". Und damit undemokratisch. Die Radikalen sind in der Minderheit. Aber sie haben Einfluss, dank einfacher Parolen. Sie werden Teile ihrer Ideen durchsetzen.

Auch der 5000-köpfige Mob, der die deutsche Botschaft in Khartum in Brand gesteckt hat, wird kaum gewusst haben, wogegen genau er Sturm läuft. Details sind unwichtig geworden: Die sozialen Medien senden mehr als nur Information um den Globus. Sie heizen die Gemüter auf, gerade in der arabischen Welt, wo Politik viel emotionaler erlebt wird. Den dümmlichen Mohammed-Film muss einer nicht gesehen haben, denn berechtigte Empörung wird ebenso wie blinde Wut per Twitter oder Mausklick geschürt.

Weniger eine Demokratie- als eine Emanzipationsbewegung

Für den Gewaltausbruch gibt es ein Bündel von Ursachen. Da sind lokale Gründe: Die CIA tötet mit ihren Drohnen Al-Qaida-Führer, aber auch jemenitische Zivilisten. In Libyen fahnden US-Agenten nach Gaddafis Luftabwehrraketen. Überhaupt werden den USA Fehler in ihrer Nahostpolitik angekreidet: der Irak-Krieg, das ungelöste Palästina-Problem.

An vielem trägt Washington keine Schuld. In Ägypten und Tunesien ist der Staat geschwächt von der Revolution. Die Polizei fürchtet die Wut der Protestierenden bei einem Schlagstockeinsatz zum Schutz der ungeliebten Amerikaner. Für den Botschafts-Vandalismus sind einige hundert Ägypter verantwortlich. Aber der regierende Muslimbruder Mohammed Mursi sitzt nicht so fest im Sattel, als dass er die Salafisten-Prediger zügeln könnte, die da ihre Gefolgsleute aufwiegeln.

Mitbestimmung und Selbstbestimmung

Der Arabische Frühling war von Anfang an weniger eine Demokratie- als eine Emanzipationsbewegung. Die arabische Welt befreit sich von der Fremdbestimmung, die sie seit dem Ende des Osmanischen Reichs 1918 erlebt. Gestürzt wurden in Mubarak oder Gaddafi einheimische Diktatoren. Sie waren auch Handlanger des Westens oder Moskaus. Die Aufstandsbewegung setzt die ins Leere gelaufenen säkularen Revolutionen und Militärcoups der Fünfzigerjahre fort: Es geht um Mitbestimmung im Inneren, aber auch um Selbstbestimmung als Ägypter, Tunesier und als Araber.

Auch wenn der Westen Beifall geklatscht hat: Beim Tahrir-Aufstand ging es weniger eindeutig um Demokratie. Identität ist in der Region untrennbar verbunden mit dem Islam, der größten arabischen Kulturleistung. Deshalb spielen religiöse Ideologien ihre Rolle bei der Suche nach dem Eigenen - ob im Parlament oder beim wütenden Mob. Regierungen werden mehr und mehr den politischen Islam repräsentieren. Er verträgt sich schwer mit der Idee von Pluralität. Ein demokratischer Naher Osten liegt deswegen heute in fast ebenso weiter Ferne wie vor 2011. Die übrige Welt hat noch keine Vorstellung davon, wie sie mit einer Region umzugehen gedenkt, die gerade zu sich selbst findet - aber auf anderem Weg, als 2011 erhofft.

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