Proteste in Armenien:"Sersch muss weg"

Proteste in Armenien: Ein Demonstrant in der armenischen Haupstadt Eriwan

Ein Demonstrant in der armenischen Haupstadt Eriwan

(Foto: AFP)
  • In Armenien ist eine zunächst kleine Protestbewegung mittlerweile auf Zehntausende Menschen angewachsen.
  • Diese fordern den Rücktritt von Sersch Sargsjan, der sich nach zwei Amtszeiten als Präsident gerade zum Regierungschef des Landes hat wählen lassen - und damit ein Versprechen gebrochen hat.
  • Es ist diese Unverfrorenheit, die die Menschen auf die Straßen treibt.
  • Und es ist die Hoffnung, mit dem Ende der Ära Sargsjan könnte auch die Vetternwirtschaft aufhören, die das Land seit Jahren lähmt.

Von Julian Hans, Eriwan

Tag und Nacht hatte Eriwan gedröhnt von den Hupkonzerten der Autofahrer, den Sprechchören der Demonstranten, von ihren Trommeln und Vuvuzela-Tröten und dem Klatschen der Anwohner. Doch am Sonntag änderte sich der Klang der armenischen Hauptstadt mit einem Mal: Erst kam das Heulen der Sirenen, das bedrohliche Donnern von Schlagstöcken auf Polizeischilde, dann folgte eine unheimliche Stille.

Mehr als zehn Tage lang hatte die Regierung der Kaukasus-Republik dabei zugesehen, wie eine zunächst eher kleine Protestbewegung von einigen Tausend Demonstranten immer mehr anschwoll und jeden Abend mehr Menschen auf den Platz der Republik strömten, bis die drei Hektar große Fläche im Zentrum von Eriwan am Samstagabend schließlich gefüllt war von einer dicht gedrängten Menschenmenge, die skandierte: "Sersch muss weg."

Sersch Sargsjan hatte sich am vergangenen Dienstag von seiner Republikanischen Partei und deren Koalitionspartner Armenische Revolutionäre Föderation Daschnakzutjun zum Regierungschef wählen lassen und damit ein Versprechen gebrochen, das er gegeben hatte, bevor das Volk 2015 über eine Verfassungsänderung abstimmen durfte, die alle Macht vom Präsidenten an den Premier übertrug.

Im April 2014 hatte er vor einer Kommission für die Reform der Verfassung feierlich erklärt, er werde nie wieder für das Amt des Präsidenten kandidieren. Und sollte infolge der Reform ein parlamentarisches System eingeführt werden, gelte dies auch für den Posten des Premiers. "Ich bin sogar der Überzeugung, dass eine Person nicht mehr als zwei Mal in ihrem Leben das Steuer der Macht in Armenien ergreifen sollte", sagte er damals.

Nach zwei Amtszeiten als Präsident wäre damit seine Herrschaft Anfang des Monats zu Ende gegangen, so schreibt es die Verfassung vor. Mit dem Wechsel ins Amt des Premiers könnte der 63-Jährige sie nun unbegrenzt fortsetzen. Bei einem Referendum im Dezember 2015 stimmten 63 Prozent dafür, dass Befugnisse des Präsidenten auf den Regierungschef übergehen. Der Staatspräsident hat nur noch symbolische Macht.

Die meisten Anwohner reagieren positiv

Es ist diese Unverfrorenheit, die die Menschen in Armenien auf die Straßen treibt. Und es ist die Hoffnung, mit dem Ende der Ära Sargsjan könnte auch die Vetternwirtschaft aufhören, die das Land seit Jahren lähmt. Verwandte und Weggefährten Sargsjans haben sich Monopole auf die einträglichsten Branchen gesichert, sei es der Kupferabbau, das Energienetz, Banken, Straßenbau oder Mobilfunk. Die Mehrheit der drei Millionen Armenier lebte derweil in Armut.

"Ich bin hier, weil dieses Regime durch und durch korrupt ist", sagt Elena Borisenko. Die 44 Jahre alte Schauspielerin tritt im Theater auf und im Fernsehen. Sie kommt jeden Abend auf den Platz der Republik um die Redner auf der Bühne zu hören und den Protest zu unterstützen. Sargsjans Schwiegersohn habe den Markt für TV-Reklame unter Kontrolle und streiche die Gewinne ein, sagt sie. "Unsere Gagen werden immer kleiner."

An diesem Samstag ist der Platz voll, 30 000 oder mehr müssen es sein. Mit spontanen Straßenblockaden haben Aktivisten wichtige Kreuzungen lahmgelegt. Autos bleiben an Ampeln stehen, Fußgänger gehen abwechselnd über den Zebrastreifen, lange Staus bilden sich. Bis sich die Polizei einen Weg an den Ort des Geschehens gebahnt hat, sind die Demonstranten schon wieder verschwunden und bringen zwei Straßen weiter den Verkehr zum Stillstand.

Anführer der Proteste will nur über einen Rücktritt Sargsjans verhandeln

Die meisten Anwohner reagieren positiv, winken vom Balkon, Autofahrer hupen rhythmisch, Angestellte kommen aus ihren Geschäften und applaudieren. Nach einer Woche hatte sich der Protest auch auf die Regionen ausgeweitet. Es gab Demonstrationen in allen großen Städten des Landes, wichtige Verbindungsstraßen und sogar ein Grenzübergang nach Georgien wurden blockiert.

Bei allen Erinnerungen an die Proteste in der Ukraine, die das weckt, legen die Menschen Wert darauf, dass es hier nicht um einen armenischen Maidan geht. "Manche halten unsere Bewegung für pro-russisch, andere halten sie für pro-europäisch", ruft Nikol Paschinjan von der Bühne, der Anführer der Proteste. Aber es gehe nicht um Geopolitik, "Sargsjan soll aus nationalem Interesse gehen".

In der Außenpolitik herrscht in Armenien weitgehend Konsens. Den meisten ist klar: Ohne die russische Schutzmacht müsste Armenien damit rechnen, dass sich der hoch gerüstete Nachbar Aserbaidschan Berg-Karabach und weitere Gebiete, die Armenien nach dem Zerfall der Sowjetunion besetzt hat, morgen zurückholen würde.

Kurz nach dem Treffen mit Sargsjan wird der Oppositionsführer abgeführt

Ein Treffen zwischen Sargsjan und Paschinjan hatte am Sonntag nur wenige Minuten gedauert. Nachdem die Demonstrationen täglich größer wurden und die Hauptstadt über Tage lahmgelegt war, hatte der Premier den Anführer der Proteste zu Verhandlungen aufgefordert. Der stellte gleich klar, er werde über nichts anderes sprechen als über die Bedingungen für den Rücktritt des Premiers.

"Das ist ein Ultimatum", entgegnete Sargsjan, "Sie haben aus dem 1. März 2008 nichts gelernt". Damals waren bei Straßenschlachten acht Demonstranten und zwei Angehörige der Sicherheitskräfte getötet worden. Paschinjan wurde als einer der Rädelsführer verurteilt und saß zwei Jahre im Gefängnis.

Armenian Prime Minister Sarksyan meets with opposition MP Pashinyan in Yerevan

Das Treffen von Premier Sersch Sargsjan (links) und Oppositions-Anführer Nikol Paschinjan. Eine halbe Stunde danach wurde Paschinjan von der Polizei abgeführt.

(Foto: REUTERS)

Vor zehn Jahren sei die Situation eine andere gewesen, sagte Nikol Paschinjan vergangene Woche in einem Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung. Damals sei es um einen Machtkampf zwischen zwei Präsidentschaftskandidaten gegangen. "Heute geht es darum, ob die Menschen für sich selbst eintreten dürfen. Jeder kämpft für sich selbst. Wir sind hier, wir sind Bürger, ihr müsst unseren Willen berücksichtigen. Sie kämpfen nicht für mich, sondern für sich selbst für ihre Rechte, für ihre Kinder." Verhandlungen könne es nur über einen Rücktritt Sargsjans geben, "mit weniger geben wir uns nicht zufrieden". Am Samstag erweiterte er seine Forderungen: Rücktritt, Übergangsregierung, Neuwahlen.

Das Treffen mit dem Premier war gerade eine halbe Stunde her, da packten Polizisten den Oppositionspolitiker und führten ihn ab. Seitdem sperren Polizisten in Kampfmontur die Straßen in Eriwan ab. Bis zum Abend wurden mehr als 200 Demonstranten festgenommen. Gelöst ist die Krise damit noch nicht. Am Abend strömten erneut Tausende auf den Platz der Republik.

Am Dienstag feiert Armenien den nationalen Gedenktag an den Genozid. Wie soll das gehen in einer Zeit der Unruhen? Elena Borisenko, die Schauspielerin, hebt die Schultern: "Ich hoffe, das wird der Tag der Befreiung."

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