Proteste in Ägypten:Demonstration der Durchschnittsbürger

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Es ist anders als vor zwei Jahren eine Volksbewegung im eigentlichen und besten Sinne. SZ-Korrespondentin Sonja Zekri berichtet aus Kairo von einer überraschend positiven, friedlichen und alles andere als aufgeheizten Stimmung am gestrigen Sonntag. Die Todesopfer seien tragisch, das Ausmaß der Gewalt jedoch angesichts der Massen auf den Straßen gering. "Alle haben einen Bürgerkrieg befürchtet und die Leute gehen hin und machen ein Volksfest." Das sei eine Bankrotterklärung für die, die befürchtet hätten, das Land versinke in Gewalt. "Das war das pluralistische, moderate, gut gelaunte Ägypten", sagt Zekri.

Denn diesmal geht auch die Mittelschicht demonstrieren, nicht nur eine zornige Jugend. Neben den politisch Überzeugten, den Revolutionären im Dauereinsatz, denen vor allem die Islamisten an der Spitze des Landes zuwider sind, gehen Familien auf die Straße. Die kleine Tamarod war vielleicht das jüngste, aber sicher nicht das einzige Kind auf dem Tahrir-Platz. Es sind Durchschnittsbürger, denen es um mehr geht als um einzelne politische Forderungen. Ihnen geht es um die Zukunft des Landes, um Ägypten selbst.

Sie haben sich von Mursi und den Muslimbrüdern ein Ende der sozialen Missstände erhofft. Sie sind wütend darüber, dass das Benzin noch immer knapp ist, dass die Stromversorgung noch immer regelmäßig zusammenbricht. "Jetzt sind es nicht nur viele kleine Oppositionsgruppen, sondern weite Teile der Bevölkerung solidarisieren sich", sagt Stephan Roll von der Forschungsgruppe Naher/Mittlerer Osten und Afrika der Stiftung Wissenschaft und Politik. Die Demonstranten verfolgten nicht unbedingt politische oder ideologische Ziele, sondern seien aufgrund der wirtschaftlichen Situation frustriert. "Es sind keine Hungeraufstände, aber es hängt unmittelbar mit der wirtschaftlichen Lage und der schlechten Versorgung zusammen."

Auch Mursi-Anhänger wenden sich gegen den Präsidenten

Gegen Mursi wenden sich nun in Teilen auch die, die ihn einst gewählt haben. Unter ihnen sind extreme Islamisten, aber auch gemäßigte, gläubige Muslime, die dem Präsidenten und seiner Partei zum Vorwurf machen, vor allem am Machterhalt interessiert zu sein, alte Strukturen des Mubarak-Regimes für sich zu nutzen und die Religion für ihre Zwecke zu missbrauchen - anstatt überparteilich zu agieren und die wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Landes anzugehen.

Vereinzelt unterstützen auch die, gegen die sich die Revolution 2011 gerichtet hatte, die aktuelle Bewegung: alte Mubarak-Getreue, die eine durchaus realistische Chance sehen, das drohende politische Vakuum nach einem Sturz Mursis für ihre Zwecke zu nutzen. "Es sind im weitesten Sinne Anhänger des alten Regimes, die mit auf die Straße gehen", sagt Roll. "Wir haben auch von bewaffneten Gruppen gehört, die für Unruhe sorgen." Die Vermutung liege nahe, dass es sich um Überbleibsel des Mubarak-Regimes handele.

Tamarod sind viele. Auch deshalb, weil der Protest auf der Straße nun ein legitimes Mittel der Unzufriedenen ist, weil Protestierende nicht mehr in dem Maß wie vor zwei Jahren um ihr Leben zu fürchten brauchen. Nun wird sich zeigen müssen, wie groß die Unzufriedenheit, wie anhaltend der Widerstand ist. Es ist eine vielfältige, diffuse Bewegung, die keine gemeinsamen politischen Ziele hat, die keine gemeinsame Vision verbindet, die keine gemeinsamen Vorstellungen von der politischen Zukunft des Landes hat. Nur den Wunsch nach einem zweiten Neuanfang - ohne Mursi.

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