Süddeutsche Zeitung

Proteste in Ägypten:Hoffen auf die zweite Revolution

Ein frei gewählter Politiker hebelt die Institutionen des Staates aus und entzieht sich so den Kontrollmechanismen der Demokratie: Mohammed Mursi hat das getan, was man Machtergreifung nennt. Nun ist die Zeit der Fundamentalisten angebrochen. Und die Zeichen deuten auf Gewalt.

Tomas Avenarius, Kairo

Machtergreifung lautet das Wort. Ein frei gewählter Politiker hebelt die Institutionen des Staates aus und entzieht sich so den Kontrollmechanismen der Demokratie: dem Parlament, der Justiz, unabhängigen Medien. Der ägyptische Staatschef Mohammed Mursi, seit Ende Juni im Amt, hat den Versuch solcher Machtergreifung unternommen.

Die Medien werden schon länger attackiert. Und Mursis "Verfassungserklärung" - die Bezeichnung spricht dem Vorgehen des Präsidenten beim Erlass dieses Dekrets Hohn - vereinigt nun Exekutive, Legislative und Judikative in einer - seiner - Hand. Ein solche Machtfülle hatte nicht einmal Mursis 2011 gestürzter Vorgänger Hosni Mubarak.

Die Opposition spricht von "Diktatur", "Faschismus", einem "neuen Pharao" und ruft ihre Anhänger auf Kairos zentralem Tahrir-Platz zusammen, wo sich seit Januar 2011 das Schicksal des Landes entscheidet. Viele Mursi-Gegner hoffen bereits auf eine "zweite Revolution". Mursi freilich behauptet, seine Machtbefugnisse im Dienst der Nation zu erweitern, "um die Forderungen der Revolution zu garantieren und die Überreste des alten Regimes auszutilgen".

Es wird Straßenschlachten geben

Beide Seiten verbarrikadieren sich, die Zeichen deuten auf neue Gewalt in Ägypten. Anhänger und Gegner des Präsidenten werden sich Straßenschlachten liefern, bei denen Menschen sterben werden. Die Polizei, bisher nicht einmal im Ansatz reformiert, wird einem neuen Aufstand kaum Herr werden. Und die Armee?

Mursi hat die seit dem Mubarak- Sturz herrschenden Generäle im August kaltgestellt, zurück in die Kasernen geschickt. Zu Hilfe eilen werden sie ihm nicht so schnell. Und wenn, dann nur unter harten Bedingungen.

Der Grund für Mursis plump betriebenen Griff nach der Allmacht ist offenkundig: Die Neu-Islamisierung Ägyptens, das Lieblingsprojekt der Muslimbrüder, tritt auf der Stelle. Die Richterschaft ist störrisch. In ihren Reihen finden sich neben Günstlingen des alten Regimes auch Juristen, die ihre Standesehre hochhalten, auf Unabhängigkeit pochen. Vereint rollen sie dem Präsidenten Steine in den Weg, auf dem er die Umformung seines Landes betreibt: mehr Islam, weniger Rechte für die Christen-Minderheit, ein bisschen Tugend-Terror und damit der verdeckte, aber unaufhaltsame Marsch zur Scharia.

Es rächen sich die Fehler der Revolution

Der Dauerkonflikt zwischen Regierung und Gerichtsbarkeit dreht sich um das Parlament, das die Islamisten nach freien, aber unter einem fehlerbehafteten Gesetz abgehaltenen Wahlen vor einem Jahr erobert hatten. Dort konnten sie tun und lassen, was sie wollten, ehe das Oberste Gericht wegen eben dieses unzureichenden Wahlgesetzes im Juni die Auflösung des Parlaments verfügte. Genau das wollen die Muslimbrüder nun rückgängig machen.

Der zweite, noch wichtigere Streitpunkt ist das Grundgesetz. Die Verfassungsgebende Versammlung sollte ursprünglich Vertreter aller Gesellschaftsschichten, Religionen und Minderheiten umfassen, dazu Frauen und Rechtsexperten. Stattdessen geben Fundamentalisten den Ton vor.

Die wenigen Christen, Liberalen und anderen Islamisten-Gegner haben das Gremium bereits verlassen. Sie sahen keine Chance, eine weltlich geprägte Verfassung zu schaffen, in der die islamische Scharia nur eine Nebenrolle spielt. Mit der Fristverlängerung, die der Staatschef der von den Juristen bedrohten Verfassungsversammlung nun zubilligt, will er den Weg ebnen für seine islamistische Grundordnung.

Somit rächen sich jetzt die Fehler der Revolution: die Zerstrittenheit der Islamisten-Gegner, Zeitdruck, unklare Vorgaben für die neue Verfassung und die ausbleibende Reform der Polizei. Dazu kommt die Gutgläubigkeit gegenüber den Fundamentalisten, die erst die Revolution gekidnappt haben und nun am Scharia-Staat bauen.

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Quelle:
SZ vom 26.11.2012/rela
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