Proteste in Ägypten:"Die Zeit war reif für eine Revolution"

Der britische Journalist John R. Bradley sagte schon 2008 in einem Buch einen Umsturz in Ägypten voraus. Er erklärt im sueddeutsche.de-Gespräch, weshalb das Volk Mubaraks Sohn Gamal hasst, wo für die Armee die Grenzen der Loyalität liegen - und wieso der morgige Freitag entscheidend sein könnte.

Marlene Weiss

Der britische Journalist John R. Bradley hat das vergangene Jahrzehnt größtenteils in Ägypten und Saudi-Arabien gelebt. 2008 vertrat er in einem Buch die These, Ägypten stehe eine Revolution bevor - viele seiner Analysen haben sich inzwischen als zutreffend erwiesen. "Die Zeit war reif", sagt er. Bradley hat unter anderem für die Zeitschriften Washington Quarterly, Newsweek und den Economist geschrieben.

Proteste in Ägypten: Eine Karikatur zeigt den seit 1981 regierenden ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak.

Eine Karikatur zeigt den seit 1981 regierenden ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak.

(Foto: AP)

sueddeutsche.de: Der Titel Ihres Buches wirkt im Nachhinein ziemlich prophetisch: Inside Egypt: The Land of the Pharaohs on the Brink of a Revolution. Warum waren Sie sich vor drei Jahren so sicher, dass Ägypten an der Schwelle einer Revolution stand?

John R. Bradley: Ich hatte jahrelang in mehreren Städten in Ägypten unter normalen Leuten gelebt und nur Arabisch gesprochen. Die intellektuelle Elite im Land redete schon seit geraumer Zeit von einer bevorstehenden Revolution, ebenso die einfachen Leute. Auf sie habe ich gehört. Westliche Journalisten und Diplomaten haben das Buch damals als alarmistisch abgetan.

sueddeutsche.de: Diese Kritik war wohl etwas voreilig. Warum haben die meisten Beobachter die Entwicklung im Land falsch analysiert?

Bradley: Viele leben dort sehr privilegiert, sie treffen nur andere Journalisten und Diplomaten und haben eine Standardeinschätzung des Landes, der sie mit wenigen Variationen immer folgen.

sueddeutsche.de: Wie wurde die Lage in Ägypten beurteilt?

Bradley: Der Tenor lautete: Ja, es gibt Unzufriedenheit, Armut und Brutalität, aber das Regime ist so skrupellos und die Opposition so unterdrückt, dass jeder Protest im Keim erstickt wird. Schließlich arbeiten fast zwei Prozent der Bevölkerung in der einen oder anderen Form für die Sicherheitskräfte. Ich habe damals argumentiert, dass ein unvorhersehbares Ereignis in der vorherrschenden Stimmung dennoch jederzeit eine Revolution auslösen könnte. Es brauchte nur einen Funken.

sueddeutsche.de: Dann kam der aktuelle Aufstand für Sie nicht überraschend?

Bradley: Nein, überhaupt nicht. Natürlich konnte niemand vorhersagen, dass die Umwälzung in Tunesien der Auslöser sein würde - es hätte alles sein können. Aber die Zeit war reif für eine Revolution, denn es war absehbar, dass die Ägypter die Geduld verlieren würden. Die Situation ähnelte jener im Jahr 1952, kurz bevor der König gestürzt wurde und Nasser an die Macht kam: Das Regime hatte alle seine Ideale aufgegeben, und es gab Armut und Korruption. Die Bevölkerungsexplosion hat alles im Vergleich zu 1952 noch verschlimmert.

sueddeutsche.de: In Ihrem Buch widmen Sie Gamal Mubarak viel Aufmerksamkeit. Welche Rolle hat der Sohn des Noch-Präsidenten gespielt?

Bradley: Ein Grund, warum ich eine Revolution in diesem Jahr für wahrscheinlich hielt, war die im September anstehende Präsidentschaftswahl. Es war klar, dass Hosni Mubarak seinen jüngeren Sohn Gamal auf die Machtübergabe vorbereitete. Die Vertreter des Regimes waren so abgehoben, arrogant und brutal zu denken, dass sie die enorme Wut ignorieren könnten, die diese Erbfolge auslösen würde. Die gesamte Opposition, von Linken über die Arbeiterbewegung bis zu den Islamisten, war absolut dagegen.

Gamal Mubarak steht für Massenarmut

sueddeutsche.de: Wird Gamal in Ägypten noch mehr gehasst als sein Vater?

Bradley: Das geht fast nicht. Hosni Mubarak ist eine Art Galionsfigur des Regimes, er ist verhasst und brutal, aber er berührt das tägliche Leben der Ägypter kaum. Gamal dagegen war für eine ganze Reihe von Privatisierungen verantwortlich, die als Wirtschaftsreformen getarnt wurden. So konnten sich die Bonzen billig die Schlüsselelemente der Wirtschaft einverleiben, und gleichzeitig wurden die Subventionen für Grundnahrungsmittel gekürzt. Es entstand eine neue superreiche Elite, während immer mehr Menschen von weniger als zwei Dollar am Tag leben mussten. Gamal Mubarak wurde dafür verantwortlich gemacht.

sueddeutsche.de: Ende Januar hat Mubarak eine neue Regierung ernannt, viele Vertraute von Gamal Mubarak mussten gehen. Sehen die Ägypter das als Zugeständnis?

Bradley: Nein. Der neue Vizepräsident Omar Suleiman war der Chef des brutalen Geheimdienstes, er hat mehr Blut an den Händen als Mubarak und steht den USA und Israel sehr nahe. Die Ägypter akzeptieren das nicht. Wenn an diesem Freitag mehr als eine Million Menschen auf die Straße gehen, ist das ein Signal, dass das Volk das Regime noch immer stürzen will. Aber das braucht Zeit.

sueddeutsche.de: Können Sie sich vorstellen, dass die Demonstranten irgendwann aufgeben?

Bradley: Das ist ungewiss, es steht auf der Kippe. Für mich hängt alles von diesem Freitag ab, denn Freitag ist Feiertag, da sind immer die größten Demonstrationen. Dann werden wir sehen, ob der Protest noch Kraft hat.

sueddeutsche.de: Wie wird das Militär sich verhalten?

Bradley: Das Militär unterstützt momentan weder Mubarak noch die Demonstranten, weil es nur auf seine Vorteile bedacht ist. Aber die Armee wird nicht nur von den USA jährlich mit 1,4 Milliarden Dollar Militärhilfe unterstützt, wovon die höchsten Offiziere einen Großteil für private Zwecke abzweigen. Das Militär kontrolliert auch weite Teile der Wirtschaft und die leidet unter den Protesten. Wenn die Normalität nicht zurückkehrt, die Touristen weiter wegbleiben und die Börse geschlossen bleibt, dann wird der wirtschaftliche Verlust der Militärs so groß, dass sie Mubarak fallenlassen. Ihr Eigeninteresse könnte dann stärker sein als die Loyalität.

sueddeutsche.de: Haben die Muslimbrüder großen Einfluss?

Bradley: Die Revolution geht von allen Teilen der Gesellschaft aus, die Muslimbrüder sind erst spät aufgesprungen. Ihnen kam der Aufstand eher ungelegen, sie waren noch nicht bereit für die Macht. Mit der Macht kommt Verpflichtung und Verantwortung, aber verpflichtet fühlen sie sich nur Gott - und sie wissen genau, dass keine Regierung die Probleme Ägyptens in naher Zukunft lösen kann.

sueddeutsche.de: Dann ist die Angst des Westens vor der Muslimbruderschaft übertrieben?

Bradley: Das Problem ist, dass sie sich zwar in der Opposition wohlfühlen, aber wenn man sie vor die Wahl stellt, ob sie marginalisiert werden oder an die Macht kommen wollen, werden sie sich für Letzteres entscheiden. Die Islamisten sind die einzige disziplinierte und organisierte Opposition in Ägypten. Je länger die Proteste andauern, desto amerikafeindlicher wird die Stimmung. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass statt eines geregelten Übergangs zur Demokratie Chaos entsteht. Und dann können wir sicher sein, dass die Muslimbrüder das Machtvakuum nutzen werden.

sueddeutsche.de: Könnte Washington dagegen etwas tun?

Bradley: Vielleicht haben die USA ihre Chance schon verpasst. Präsident Obama hätte sofort klarstellen sollen, dass er das ägyptische Volk unterstützt und für Freiheit und Demokratie eintritt. Dann hätte es vielleicht freie Wahlen geben können, und die hätten die Islamisten verloren, weil sie bei der Revolution nicht von Anfang an dabei waren. Dafür ist es jetzt zu spät.

sueddeutsche.de: Ihr Buch war in Ägypten ein großer Erfolg. Wochenlang wurde in den unabhängigen Zeitungen darüber berichtet; zeitweise wurde es verboten, dann aber wieder erlaubt. Wieso hat sich Mubaraks Regime so viel Pressefreiheit geleistet?

Bradley: Die relativ freie Presse zeigt sehr gut, warum man diesem Regime nicht trauen darf, wenn es jetzt Reformen verspricht. Es ist surreal: In den vergangenen fünf Jahren ist die Oppositionspresse viel kritischer geworden, man kann diese Zeitungen überall kaufen und im Café sitzen und sie lesen. Aber die Ägypter trauen sich nicht, darüber zu reden, weil sie Angst vor der Geheimpolizei haben.

sueddeutsche.de: Der Einfluss der Berichte war also gering.

Bradley: Die Pressefreiheit war nur ein Manöver für das Regime: Es hatte ein Aushängeschild für den Westen und wusste zugleich, dass ohnehin nur Intellektuelle diese Zeitungen lesen würden. Gleichzeitig war die freie Presse ein Deckmantel für das Regime, um Blogger und Internet-Aktivisten brutal zu verfolgen. Wie sich nun gezeigt hat, haben sich diese als die wahre Bedrohung für das Regime herausgestellt.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: