Proteste gegen Stuttgart 21:"Mir kommt die Galle hoch"

Anwohner, Senioren, und Jugendliche, die sich mit Ketchup beschmieren: Breiter als in Stuttgart kann Widerstand kaum aufgestellt sein. Die Bürger der Stadt demonstrieren gegen den Umbau des Hauptbahnhofs.

Susanne Klaiber

Es ist eine selten wilde Mischung von Menschen, die vor dem Nordeingang des Stuttgarter Bahnhofs aus allen Richtungen zusammenläuft: Senioren mit Gehwagen, Jugendliche in Schlabberhosen auf Skateboards, Anzugträger, Öko-Freaks, Durchschnittsmenschen.

Proteste gegen Stuttgart 21

Protest gegen eine neue S-Bahn-Linie? Nein, gegen ein gigantisches Bauprojekt. Stuttgart erlebt den 40. Tag seiner "Montagsdemonstrationen".

(Foto: dpa)

Ebenso wild ist die Mischung der Dinge, mit denen sie Krach machen gegen Deutschlands größtes Bauprojekt, gegen "Stuttgart 21": Zimmermeister Markus Hertel zum Beispiel schlägt mit einer Suppenkelle auf einen Topfdeckel, weil er keine Trillerpfeife hat, daneben trötet einer mit der Vuvuzela, ein paar Frauen trommeln, andere schwingen bunt bemalte Kinder-Ratschen, Männer lärmen auf Knopfdruck mit elektrisch betriebenen Tröten, einer läutet eine Kuhglocke. Es ist Montag in Stuttgart, Tag der 40. Montagsdemonstration.

Montagsdemo ist vielleicht ein zu großer, zu geschichtsträchtiger Name für einen Protest, bei dem die Menschen nicht wie 1989 in der DDR gegen ein totalitäres Regime auf die Straße gehen, sondern dagegen, dass ihr Kopfbahnhof einem unterirdischen Durchgangsbahnhof weicht. "Vielleicht wird mit den Wort Montagsdemo tatsächlich ein historisches Vorbild missbraucht", grübelt Matthias von Herrmann, Sprecher der Protestbewegung "Die Parkschützer".

Aber zumindest seien die Montagsdemos von damals ein Symbol für breiten Widerstand, "nicht nur für den Aufstand linker Spinner", sagt der 37-jährige Politologe. Und breiter als in Stuttgart kann Widerstand kaum aufgestellt sein. Das muss Herrmann nicht sagen, man muss nur einen Blick auf die lärmende, bunte Menschenmasse werfen. Mehr als 10.000 Personen wollen die Veranstalter gezählt haben, etwa 6000 die Polizei.

Sabine Foth steht mit ihrer Tochter im Gedränge und hält ihr die Ohren zu, andere Eltern haben ihren Kindern Lärmschutz-Kopfhörer verpasst. Schließlich sollen sie keinen Hörschaden von dem Getöse bekommen, sondern lernen, "dass man nicht zu allem Ja sagen muss", wie Foth es formuliert. Mit "allem" meint die Rechtsanwältin ganze Packen an Vorwürfen, die sich die Verantwortlichen für das Projekt - also Stadt, Land, Bund und Bahn - derzeit anhören müssen.

Erstens sind da Bedenken gegen das Projekt an sich: Die Planer wollen die Fahrzeit zwischen Ulm und Stuttgart sowie zwischen Stuttgarter Stadtmitte und Messegelände verkürzen. Allerdings legen Gutachten nahe, dass der neue Bahnhof mit 8 statt derzeit 17 Gleisen eine neue Engstelle würde. Außerdem enthält der Boden in der Gegend das Mineral Anhydrit. Er kann um 50 Prozent anschwellen, wenn er mit Wasser in Berührung kommt - gefährlich beim Tunnelbau, der eventuell auch die berühmten Mineralquellen in der Gegend beeinträchtigen könnte.

Anketten für Anfänger

Zudem wehren sich viele gegen die Architektur des neuen Bahnhofs. Sie wollen den alten von 1917 behalten, er ist eines der wenigen alten Gebäude der Stadt. Teile davon müssten abgerissen werden für den neuen unterirdischen Bahnhof, der sein Licht durch durchsichtige Kuppeln an der Oberfläche bekommen und laut Architekt Christoph Ingenhoven keine Heizung, Kühlung oder mechanische Lüftung benötigt. Kosten würde der neue Bahnhof und der neue Streckenabschnitt nach derzeitigen Schätzungen etwa sieben Milliarden Euro. Derzeit wohlgemerkt.

"Das wäre doch in Bildung, sozialen Projekten und Jugendarbeit viel besser investiert", sagt David Redelberger von der "Jugendoffensive gegen Stuttgart 21" und pinselt "Hier blutet die Jugend aus" auf ein Leintuch. Diesen Einwand hört man häufig auf der Demo. Dass Stadt, Land und Bund das Geld kaum dafür ausgeben würden, wenn der Bahnhof und Bahnstrecke nicht umgebaut würden, weiß der 21-Jährige. Trotzdem. Man kann es ja mal vorschlagen. Und so richtig eindrücklich zeigen, wie es aussähe, wenn die Jugend wegen so eines Prestigeprojekts "ausblutet": Mitglieder seiner Gruppe in Badeklamotten übergießen sich dazu fotogen mit Ketchup.

Dass die Aktion so viel Aufsehen erregt, hätte er selbst nicht gedacht, sagt Redelberger nachher. Einigen Fotografen dürfte die Aktion allerdings aus einem ganz anderen Grund im Gedächtnis bleiben, als dem künftigen Studenten lieb ist: Auf der Jagd nach dem besten Bild haben sie sich auf das am Boden liegende Leintuch mit dem Schriftzug gekniet. Die Farbe war noch feucht.

Neben dem Projekt an sich graut vielen Stuttgartern auch einfach vor der langen Bauzeit: "Ich wohne dort hinten am Hang," sagt Bürokauffrau Almut Oswald und zeigt auf das Kernerviertel, "da krieg ich den ganzen Lärm ab". Außerdem würde der Schlosspark als grüne Oase im stickigen Talkessel für viele Jahre ausfallen, knapp 300 alte Bäume würden gefällt. Zwar sollen später 5000 neue dafür gepflanzt werden, aber das überzeugt die Gegner nicht. Die Gruppe "Parkschützer" bietet deshalb schon Trainings an, wie man sich richtig ankettet und dabei Polizisten möglichst wenig provoziert.

Und dann ist da noch ein dritter Grund, der die Demonstranten wütend macht: Es ist das alte Gefühl, von denen "da oben" nicht ernst genommen zu werden. Es ist das Gefühl, vielleicht in der Sache nicht Bescheid zu wissen, aber darüber, dass Demokratie so nicht laufen sollte: Während der nun 22-jährigen Planungszeit sind die Kosten für das Projekt immer weiter nach oben korrigiert worden, im Jahr 2003 lag die Schätzung noch bei vier Milliarden Euro. Die Stadt hat ein Bürgerbegehren zur Sache abgelehnt, trotz 60.000 Unterschriften. Und nun kam in den vergangenen Wochen heraus, dass ein kritisches Gutachten zwei Jahre zurückgehalten wurde. Außerdem sollen Schwarzarbeiter auf der umkämpften Baustelle am Bahnhof beschäftigt sein.

Bei so vielen Kritikpunkten scheint für jeden Demonstranten einer dabei zu sein, über den er sich besonders aufregen kann. Eine alte Dame ereifert sich sogar so, dass es ihr egal ist, als der Regen zu Beginn der Demo sie durchweicht. "Mir kommt die Galle hoch", zischt sie.

"Ich bin gnadenlos niedergeschrien worden"

Einige Politiker sehen in dem Protest gegen Stuttgart 21 offenbar auch die Gelegenheit, sich zu profilieren. So ruft Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) von der Bühne, dass nicht nur Behörden Missstände beseitigen dürften, sondern auch das Volk. Befürworter des Bauprojekts lassen sich auf der Demo kaum sehen. Nur ein älterer Herr wettert gegen die Gegner. "Die Bahn wird doch nicht Geld für etwas ausgeben, was nicht kundenfreundlich ist", schreit er gegen den Lärm an. Doch es dauert nur Minuten, bis fünf Gegner gleichzeitig auf ihn einreden - und mit deren Detailwissen kann er nicht mithalten.

Bei dieser Szene bekommt man eine Ahnung davon, warum Wolfgang Drexler (SPD), Vizepräsident des Baden-Württembergischen Landtags und Sprecher der Befürworter, nicht mehr auf der Demo vorbeischaut: "Ich bin gnadenlos niedergeschrien und niedergepfiffen worden." Inhalte würden nicht mehr zur Kenntnis genommen.

Drexler muss viel aushalten in diesen Wochen, sogar Morddrohungen hat er schon bekommen. Trotzdem gibt er nicht auf, will nicht "wegtauchen". Wenn man sich für etwas entschieden habe, müsse man das auch vertreten. Anfeindungen aushalten zu müssen sei für einen Politiker nicht ungewöhnlich, sagt er.

Stuttgart 21 soll den Eisenbahnknotenpunkt der Schwabenmetropole neu ordnen und modernisieren. Die Befürworter des Projekts sehen darin eine "Jahrhundertchance für die Stadtentwicklung". Neben der Schaffung von Arbeitsplätzen betonen sie vor allem den ökologischen Charakter des Bauvorhabens, die schnellere und effizientere Verkehrsanbindung oder auch dass an der Oberfläche der Stadt Platz geschaffen werden soll. Das Verkehrs- und Städtebauprojekt ist zugleich Teil des transeuropäischen Projekts "Magistrale für Europa", das eine Eisenbahn-Hochgeschwindigkeitstrecke auf der Achse Paris- Budapest/Bratislava zum Ziel hat. Die Initiative wurde 1990 von den Städten, Regionen sowie der Industrie- und Handelskammern entlang der Route - die beispielsweise bis 1990 zwischen Wien und Budapest durch den Orient-Express bedient wurde - gegründet. Hintergrund ist auch die ökonomische, politische und kulturelle Integration von Ost- und Westeuropa.

Der Stuttgarter SPD-Mann und die anderen Befürworter haben es auch deswegen schwer, weil sie nicht gegen einen konkreten Plan anreden können wie die Gegner von Stuttgart 21, sondern nur gegen vergleichsweise grobe Planungen. Einige der Gegner wollen zum Beispiel, dass das bestehende Netz und der Bahnhof lediglich renoviert werden. Vor allem aber wollen sie erst einmal einen Baustopp und dann neue Gespräche.

Ein Grund für jeden Gegner

Allerdings wird die Zeit knapp, denn der Bagger steht schon bereit am Nordbahnhof. Damit die Arbeit dort möglichst langsam vorangeht, organisieren Gegner eine Mahnwache vor der Einfahrt zur Baustelle. Die Verwaltungsangestellte Eva-Maria Gideon hat sich dort schon viele Nächte um die Ohren geschlagen, inzwischen hat man das Gefühl, ihr könnten jeden Augenblick die Augen zufallen. Weil sie die Bauarbeiter damit behindert, hat die Polizei sie schon mehrmals weggetragen, sagt die 52-Jährige. Das kostet nicht nur Nerven, sondern auch Geld, etwa 80 Euro für einmal Wegtragen werden ihr in Rechnung gestellt, schätzt sie. Vielleicht bekommt sie das Geld aus einem Fonds der Stuttgart-21-Gegner zurück. Vielleicht auch nicht.

Sie will trotzdem weitermachen. Vielleicht braucht sie auch bald nicht mehr so lange wach zu bleiben, denn nach der Demo melden sich einige, die mitmachen wollen beim Wache-Sitzen. Die Journalistin und Historikerin Sybille Weitz zum Beispiel. "Ob ich abends fernsehe oder drei Stunden hier sitze ist doch egal, ich bin ohnehin ein Nachtmensch." Sie hofft, dass sie den Abriss verhindern kann. Das würde sich auch das Grüppchen um den 28-jährigen Maik Dietrich wünschen, das um drei Uhr in dieser Nacht noch Dienst tut. Die Wache-Organisatoren sind sich da aber nicht so sicher. "Wir verhindern damit nichts", sagt einer: "Aber es ist ein Statement."

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