Dieter Reicherter, 63, gehört nicht zu der Protestbewegung gegen Stuttgart 21 und will mit der Auseinandersetzung eigentlich auch nichts zu tun haben. Am vergangenen Donnerstag war der pensionierte Richter im Stuttgarter Schlosspark, um sich vor Ort ein Bild von der Lage zu machen. Nach den gewaltsamen Auseinandersetzungen reichte der Jurist, der zuletzt einer Strafkammer des Landgerichts Stuttgart vorsaß, Dienstaufsichtsbeschwerde gegen den Wasserwerfer-Fahrer ein. Mit sueddeutsche.de sprach Reicherter über brutale Szenen und enttäuschtes Vertrauen in den Rechtsstaat.
sueddeutsche.de: Herr Reicherter, wie haben Sie den Donnerstagnachmittag im Stuttgarter Schlosspark erlebt?
Dieter Reicherter: Ich hatte von der Räumungsaktion im Radio gehört und wollte mich selbst vor Ort informieren. Ich gehöre nicht zu der Protestbewegung, war vorher noch nie bei einer Demonstration. Ich stand mit anderen Menschen abseits des Wegs auf der Wiese. Dort wurde der Wasserwerfer eingesetzt.
sueddeutsche.de: Wurden Sie davor gewarnt?
Reicherter: Nein, es gab keine Vorwarnung. Da waren keine Gewalttäter, nur Menschen wie du und ich. Sie riefen verzweifelt: "Hört auf, hört auf - wir sind friedlich!" Aber das hat alles nichts genützt. Die Polizisten, schwarz gekleidet und schwer bewaffnet, sahen sehr bedrohlich aus. Ich habe mich total ausgeliefert gefühlt, ohnmächtig. Vielleicht habe ich das auch besonders klar wahrgenommen, weil ich ja früher selbst Teil des Machtapparats war. Ich habe dort Menschen gesehen, die an der Demokratie verzweifelt sind.
sueddeutsche.de: Sie auch?
Reicherter: Mir ging es hinterher sehr schlecht - auch wenn ich glücklicherweise unverletzt geblieben bin. Ich habe schlecht geschlafen. Am nächsten Morgen dachte ich, ich muss was unternehmen. Ich halte das Vorgehen der Polizei in der Situation für rechtswidrig.
sueddeutsche.de: Inwiefern?
Reicherter: Zum einen bestand keine Veranlassung gegen die Leute, die abseits des Wegs auf der Wiese standen, vorzugehen. Und man hätte den Wasserwerfereinsatz den Leuten vorher androhen müssen und ihnen die Möglichkeit geben, die Wiese zu verlassen. Doch auch dann wäre dieses Vorgehen gegen friedliche Bürger nicht verhältnismäßig. Ich war jahrzehntelang Richter, davor Staatsanwalt. Ich habe mich immer bemüht, gerecht zu sein und die Wahrheit herauszufinden. Darum geht es hier auch.
sueddeutsche.de: Die offizielle Version ist also nicht die Wahrheit?
Reicherter: Nein. Die Situation die ich erlebt habe, stimmt nicht mit der offiziellen Darstellung überein, dafür gibt es auch Zeugen. Deswegen die Dienstaufsichtsbeschwerde an Innenminister Heribert Rech.
sueddeutsche.de: Hat Herr Rech schon geantwortet?
Reicherter: Nein. Als Jurist ist mir bewusst, dass es dauert, bis eine Sache ordentlich geklärt ist. Deshalb will ich erst einmal abwarten. Aber seit der Brief im Internet gelandet ist, werde ich mit Mails und Anrufen aus der ganzen Welt überschüttet.
sueddeutsche.de: Was wollen die Anrufer?
Reicherter: In der Regel bedanken sich die Leute bei mir. Sie sind froh, dass einer die Sache in die Hand nimmt. Viele möchten sich aussprechen. Ein 65-jähriger Herr zum Beispiel, der wohl aus nächster Nähe Pfefferspray ins Gesicht bekommen hat. Er sagte, er bekomme immer noch Weinkrämpfe, wenn er die Bilder sehe.
sueddeutsche.de: Was wollen Sie mit der Beschwerde erreichen?
Reicherter: Mir geht es vor allem um die Verteidigung der Grundrechte. Ich habe beschlossen, mich aus dem Konflikt um Stuttgart 21 rauszuhalten und mich genau darauf zu konzentrieren. Der Staat darf mit seinen Bürgern nicht so umgehen. Ich denke, dieses Anliegen ist langfristig viel wichtiger. Die Leute dürfen nicht am Staat und an der Politik verzweifeln. Wenn sie das tun, haben wir in den nächsten Jahren ein Riesenproblem. Deshalb muss man etwas unternehmen.
sueddeutsche.de: Ist Ihr Vertrauen in den Staat, Ihren ehemaligen Dienstherrn, dauerhaft beschädigt?
Reicherter: Ich glaube an den Rechtsstaat und vertraue darauf, dass sich die Justiz bemüht, die Sache aufzuklären. Ich hoffe, dass das ein einmaliger Vorgang war und sich das nicht wiederholt.