Proteste gegen Regierung:Warum die Rumänen in Aufruhr sind

Proteste in Rumänien

Wie hier in Bukarest protestieren Hunderttausende Rumänen gegen ein Dekret, das Korruption bis 45 000 Euro straffrei stellt und bereits Inhaftierte wieder auf freien Fuß setzt.

(Foto: dpa)

Hunderttausende Rumänen protestieren gegen die Regierung. Neun Demonstranten erzählen, weshalb sie seit der vergangenen Woche auf die Straße gehen.

Protokolle von Moritz Matzner und Ulrike Schuster

In Rumänien finden seit Ende Januar die größten Massenproteste statt seit dem Niedergang des kommunistischen Ceaușescu-Regimes 1989. Auslöser für die aktuellen Proteste ist ein Dekret der Regierung, das Amtsmissbrauch, Korruption und Vorteilsnahme entkriminalisieren soll, wenn es sich um einen Betrag von unter 45 000 Euro handelt.

Dagegen protestieren mehr als eine halbe Million Menschen. Allein in Bukarest versammelten sich Hunderttausende. Auf Druck der Demonstranten wurde der Regierungsbeschluss inzwischen zwar zurückgenommen, nun soll er als Gesetzesinitiative ins Parlament eingebracht werden.

Reizfigur in Rumänien neben Premier Sorin Grindeanu ist ein anderer Politiker: Der mächtige PSD- und Unterhauschef Liviu Dragnea. Zurzeit steht er wegen Amtsmissbrauch und Dokumentenfälschung vor Gericht - von der Gesetzesinitiative würde er direkt profitieren. Staatspräsident Klaus Johannis hat Dragnea und dem Rest des Kabinetts am Dienstag den Rücktritt nahegelegt. Rumänien brauche jetzt "eine starke Regierung", keine, die in "Nacht- und Nebelaktionen" arbeitet, sagte er in seiner Rede im Parlament.

Und was sagen die Rumänen auf der Straße? SZ.de lässt acht Studenten, Angestellte und Aktivisten zu Wort kommen, die seit vergangener Woche in Bukarest, Kronstadt (Brașov) und Berlin demonstrieren. Entstanden sind Protokolle, die von Fassungslosigkeit und Generationenkonflikten erzählen - aber auch von Solidarität und Aufbruchsstimmung.

Virgil Drăgușin, 35, Wissenschaftler aus Bukarest

"Ich bin seit letzter Woche bei den Protesten, jeden Tag von früh bis spät. Dieser Vorstoß der Regierung war einfach zu viel, das war ein Angriff auf das Rechtssystem.

Die Sozialdemokraten sind angetreten mit dem Versprechen, Löhne im öffentlichen Sektor und die Rente zu erhöhen. Deswegen haben sie gewonnen, ihre Wählerschaft liegt vor allem auf dem Land, ist im Durchschnitt älter als die Stadtbevölkerung. Auf der Straße sind jetzt aber nicht nur wir (Drăgușin ist Anhänger der in den Wahlen im Dezember unterlegenen Mitte-Rechtskoalition, Anm. d. Red.), sondern auch viele Unterstützer der Sozialdemokraten. Die sagen mir: "Dafür haben wir nicht gewählt. Wir wollten soziale Reformen, nicht, dass Verbrecher aus dem Gefängnis frei kommen." Denn das ist, was gerade passiert: Korruption wird entkriminalisiert, Geld zu stehlen, wird erlaubt! Wie verrückt ist das denn?

Meines Erachtens muss die Regierung zurücktreten, die Vorwürfe wiegen zu schwer. Ob das wirklich passieren wird, weiß ich nicht. Wir werden auf jeden Fall nicht aufhören zu demonstrieren, bis nicht nur das Dekret endgültig zurückgenommen wurde, sondern auch die Parteien sich der korrupten Politiker entledigt haben."

Richard Sterner, 39, Angestellter bei der evangelischen Kirche in Kronstadt

"Die Dringlichkeitsverordnung war ein Attentat auf die Verfassung. Jeden Abend war ich ab 18 Uhr auf der Straße, um dagegen zu demonstrieren, gestern zusammen mit meiner 7-jährigen Tochter. Sie soll sehen, welche Macht das Volk hat, was es heißt, aufrecht für seine Rechte einzustehen.

Es ist schon verrückt, was gerade passiert: Da beschließt eine Regierung einen verbrecherischen Irrsinn im Hauruck-Verfahren, kurz vor Mitternacht - ohne Beratung, ohne Anhörung, ohne Überprüfung. Und am Tag danach soll das Dekret von Verwaltung und Justiz angewendet werden. Das muss man sich mal vorstellen! Es wäre der erste Schritt in Richtung Diktatur gewesen. Wir wollen aber nicht den Weg der Türkei und von Ungarn gehen, deshalb ist es so wichtig, dass wir uns wehren.

Das, was jetzt auf den Straßen passiert, ist der Schrei des Volkes, ernst genommen zu werden, ein neues Bürgergefühl ist geboren. Demokratie bedeutet nicht nur, alle vier Jahre an die Urne zu gehen, sie passiert täglich und gerade verteidigen wir sie. Der Donnerblitz des Verbrecher-Dekrets hat uns das bewusst gemacht.

Ich bin halb Siebenbürger Sachse, halb Rumäne. Nach Deutschland auszusiedeln, ist für mich keine Option, denn ich bin hier sehr verwurzelt."

Monika Popescu

Eine Demonstrantin hält zeigt per Flugblatt, was sie von Unterhauschef Liviu Dragnea hält.

(Foto: Monika Popescu)

Monika Popescu, 36, Online-Redakteurin aus Bukarest

"Ich stehe zum zweiten Mal in meinem Leben für eine Sache auf der Straße. 2015 demonstrierte ich zum ersten Mal gegen die Regierung, nachdem bei dem Brand im Nachtclub Colectiv 60 Menschen gestorben waren. Auch damals war die Korruption schuld, der Musikclub erfüllte die Feuerschutzauflagen nicht. Bloß nehmen es die rumänischen Behörden mit Sicherheitsvorschriften nicht so genau, Hauptsache, das Schmiergeld stimmt. Damals forderten 70 000 Menschen Gerechtigkeit, heute sind es 300 000 Menschen.

Die letzten sechs Abende habe ich auf dem Siegesplatz in Bukarest protestiert und jedes mal überwältigte mich die Energie dort aufs Neue. Es sind junge Leute, Eltern mit Kindern, alte Menschen mit ihren Enkeln. Als wir gestern alle gemeinsam unsere Nationalhymne gesungen haben, musste ich weinen.

Ich war so stolz, wir waren alle Freunde, ein solidarisches Rumänien. Ich spüre zum ersten Mal seit Jahren Optimismus und Aufbruchsstimmung. Es ist das Gefühl, auf uns, das Volk, kommt es an, die Macht liegt in unseren Händen, die Regierung muss weg.

Monika

Monika mit der Tochter eines Freundes beim Protest in Bukarest

(Foto: Monika Popescu)

Es geht nicht, über Nacht die Arbeit von jahrelanger, erfolgreicher Korruptionsbekämpfung auszulöschen. Die Regierungspolitiker sollten sich schämen! Sie halten ihr Volk für eine Herde von Trotteln, die sie nach Belieben belügen und ausnehmen können. Die Straßenproteste müssen eine Riesenüberraschung für sie sein. Jetzt ist es an der Zeit zu zeigen, wozu wir fähig sind - friedlich, überzeugt und Arm in Arm."

Dragos Ştefan Măntoiu, 28, Umweltaktivist und Student aus Bukarest

"Das Dekret macht mich so wütend. Es ist allein dafür gemacht, Politiker zu begünstigen und zu begnadigen. Die letzten Tage bin ich jeden Abend nach der Arbeit mit meinen Freunden zu den Protesten gegangen. Ich habe immer nur ein paar Stunden geschlafen. Wenn wir nicht hingehen würden, würden wir uns schuldig fühlen.

Unser Land steckt gerade im Chaos, es ist auch ein Konflikt der Generationen. Meine Freunde und ich sind kurz nach dem Ende des Kommunismus geboren. Unsere Eltern- und Großelterngeneration haben die Ceaușescu-Diktatur und die Knappheit erlebt. Deswegen sind sie glücklich und dankbar, jetzt mehr Rente zu bekommen. Für etwas Mehl, Öl und Zucker lassen sie sich von der Politik kaufen. Aber wir Jungen wollen mehr: Die Korruption soll aufhören, das ist das Wichtigste. Und um Rechtssicherheit geht es uns: Ich will nicht mit einem Gesetz einschlafen und mit einem anderen aufwachen. Und mit Frauenrechten soll es voran gehen.

Was toll ist: Ich spüre in diesen Tagen eine Energie, etwas verändern zu wollen. Die Menschen unterstützen sich gegenseitig. Hotels in Bukarest stellen ihre Zimmer zur Verfügung, Menschen öffnen fremden Demonstranten ihre Türen und die Geschäfte verteilen Suppe, Tee und Kaffee. Diese Solidarität macht mich glücklich."

Carmen Ciuraru, 30, Touristenführerin aus Kronstadt

"Als ich am Dienstag von dem Dekret gelesen habe, habe ich die Welt nicht mehr begriffen. Ich rief meine Freunde an, und noch am selben Abend sind wir auf die Straße gegangen, insgesamt waren wir mehr als eintausend Menschen.

Als ich die Bilder aus Bukarest gesehen habe, bin ich gleich am nächsten Tag mit meiner kleinen Tochter in den Zug gestiegen und los gefahren. Morgens brachte ich sie zu meiner Großmutter, dann bin ich den ganzen Tag auf die Demo. Wir unterhielten uns darüber, was wir machen können, was unsere Rechte sind.

Ich bin bei den Demos, weil die Regierung Korruption und Amtsmissbrauch legalisieren will, das geht doch gegen den gesunden Menschenverstand!"

"Denn sie wissen nicht, was sie tun"

Gabriel Garais, 39, Informatik-Professor aus Bukarest

"Denn sie wissen nicht, was sie tun - das war mein erster Gedanke, als ich hörte, dass in Zukunft das in die eigene Tasche wirtschaften straffrei ausgehen soll. Und die, die schon betrogen haben, sollen wieder frei kommen, Motto: Wer sich selbst bereichert, liebt sich selbst. Der Dieb wird bedient und der Bürger für dumm verkauft.

Wer Recht und Gesetz so skrupellos mit dem Stiefel tritt, hat jedes Recht, ein Land zu regieren, verwirkt. Natürlich könnte man sagen: ,Ihr habt sie doch gewählt'. Stimmt aber nicht. Drei Millionen Menschen haben sie gewählt.

Die große Mehrheit, nämlich dreimal so viele, hat gar nicht gewählt. Ich kenne viele Intellektuelle, die sich angewidert von der Politik abgewendet haben, sie boykottieren das korrupte System. Bloß in der Wirklichkeit funktioniert das nicht, Politik betrifft jeden. Das haben die Menschen nun begriffen, ab jetzt halten sie nicht mehr still."

Proteste gegen Regierung: Gabriel Garais auf einer Demonstration in Bukarest

Gabriel Garais auf einer Demonstration in Bukarest

(Foto: Gabriel Garais)

Adrian, 28, Angestellter bei einem großen Unternehmen

"Ich habe fast kein Zeitgefühl mehr, so oft bin ich auf den Demos. Ich steh' auf, geh' zur Arbeit, esse etwas, und dann geht es wieder los zur Demo bis spät in die Nacht.

Das ist ein neues Gefühl für uns junge Leute, ich spüre, dass wir etwas ändern können. Politisch ist bei den Demonstrationen keine Parteizugehörigkeit zu erkennen. Um was es geht: Die Menschen wollen nicht belogen werden. Stell dir das vor - die Parlamentswahlen waren erst am 11. Dezember 2016. Und jetzt gibt es die größte Demonstration seit dem Ende des Kommunismus.

Wir wollen demokratische Rechte und Werte, doch was macht die Regierung? Sie ermutigt mit ihrem Dekret dazu, zu stehlen und korrupt zu sein. Das ist eine Schande, sie sind Verräter."

Uwe Leonhardt, 40, Rumäniendeutscher, Wirtschaftsinformatiker in München und Kronstadt

"Rumänien ist erwacht, aber es braucht immer erst die Katastrophe, bevor klar ist, was zu tun ist - das heißt, Demokratie und Rechtsstaat zu verteidigen. Ich bin ein Siebenbürger Sachse, ich lebe in beiden Ländern, in München und Kronstadt. Seit der Nacht, in der die Regierung das Eildekret durchgewunken hat, protestiere ich unter der Woche jeden Abend vor der rumänischen Botschaft in München, am Wochenende in Brasov.

,Nieder mit der Korruption', steht auf meinem Schild, mit dem habe ich schon vor einem Jahr nach dem Club-Brand gegen den damaligen Regierungschef Victor Ponta (auch von den Sozialdemokraten, Anm. d. Red.) protestiert. Im Fall von Rumänien braucht man diese Aufschrift immer wieder, Wegwerfen lohnt sich nicht, denn das Frustrierende ist: Egal, wen du in Rumänien wählst, jeder bescheißt, jeden macht die Macht größenwahnsinnig.

Uwe LeonhardtSiebenbürgerBrasov

Der Deutsch-Rumäne Uwe Leonhardt demonstriert vor der rumänischen Botschaft in München

(Foto: privat)

Die Ceaușescu-Mentalität hält sich bei unseren Politikern bis heute. Und die besagt: ,Du musst ein cleveres Schlitzohr sein, damit es dir an nichts fehlt.' Nur wenn du der Krankenschwester ein paar hundert Lei zusteckst, kriegst du auch die Windeln gewechselt. Nur der Pfarrer und der Politiker, der die Scheine auf den Tisch legen kann, kriegt seine Gemeinde und sein Amt.

Dieses Geschmiere sind die Menschen jetzt endgültig satt, nur noch die Alten lassen sich für einen Apfel, ein Ei und einen Liter Öl kaufen."

Ecatarina Gabriela Dan, 37, Unternehmerin aus Bukarest

"Mit mir ist seit sechs Abenden die Generation auf der Straße, die weiß, was europäische, westliche Werte sind. Wir haben im Ausland studiert, haben erlebt, wie bessere Politik geht. Das spornt uns an, wir wollen Rumänien nach vorne bringen.

Es ist unsere Heimat, an ihr hängt unser Herz und widerstandslos überlassen wir sie den betrügerischen Politikern nicht. Meine Eltern haben mir beigebracht: ,Lüge nicht, stehle nicht und steh' auf für deine Rechte.' Daran glaube ich bis heute fest.

Die momentane Lage frustiert meine Generation. Du strengst dich an, arbeitest fleißig, zahlst deine Steuern, investierst in das Land. Und dann kommt eine korrupte Clique und steckt sich die Ernte in die Tasche. Verstehen die nicht, dass sie damit alles kaputt machen? Hoffnung und den Glauben der Menschen zerstören? Es geht um die Utopie einer gerechten, besseren Gesellschaft. Die dürfen sie uns nicht nehmen.

Ich bin Patriotin, ich glaube, wir Jungen können die Wende schaffen, können dem Land zu Recht und Anstand verhelfen. Dass wir jetzt aufbegehren, ist ein erster Schritt, wir ziehen alle an einem Strang, auf Augenhöhe. Über Facebook haben wir uns innerhalb weniger Stunden organisiert. Es gibt keinen Führer, keinen Sprecher, alle sind gleich. Rumänien hat die Chance, ein europäisches Leuchtfeuer zu sein."

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