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Proteste "besorgter Anwohner":Ich habe nichts gegen Flüchtlinge, aber ...

Klar müssen wir Flüchtlingsheime bauen! Aber nicht hier. Hinter den Protesten gegen Flüchtlingsunterkünfte stecken nicht nur tumbe Neonazis. Die sprichwörtlich gewordenen "besorgten Anwohner" finden scheinbar rationale Argumente. Was dahinter steckt.

Von Hannah Beitzer

Warum brauchen wir überhaupt ein Flüchtlingsheim? Und warum ausgerechnet hier? Ist hier nicht eigentlich ein Trinkwasserschutzgebiet? Gibt es überhaupt ein Sicherheitskonzept? Verhindert die Flüchtlingsunterkunft die wirtschaftliche Entwicklung des Bezirks? Werden jetzt die Kita- und Schulplätze knapp?

Auf Fragen wie diese hat das Bezirksamt Pankow vor Kurzem den Bewohnern des Stadtteils Buch in einem Brief geantwortet. Pankow ist neben Marzahn-Hellersdorf und Treptow-Köpenick einer von drei Bezirken in Berlin, in denen die Stadt demnächst Containerunterkünfte für Flüchtlinge bauen will. In all diesen Bezirken protestieren nun Anhänger rechter Parteien und Strömungen gegen die Unterkünfte, teils mit den üblichen Parolen: Kriminell sind die Ausländer, Asylbetrüger. Aber eben nicht nur. Unter den Heimgegnern sind auch "besorgte Anwohner". So lautet die in der Flüchtlingsdebatte sprichwörtlich gewordene Bezeichnung für Gegner von Heimen in der Nachbarschaft, die ausdrücklich keine Rassisten sein wollen. Oft heißt es von politischer Seite, neben den offen rassistischen Parolen der Rechten gäbe es eben auch "berechtigte Bedenken".

Wie sehen diese Bedenken aus? Den "besorgten Anwohnern" ist es wichtig zu betonen: Wir haben nichts gegen Flüchtlinge. Aber halt nicht hier. Argumente finden sich genug. Da lebt eine seltene Froschart auf der Wiese, auf der die Container stehen sollen. Auch fallende Grundstückpreise fürchten viele Anwohner, ebenso knappe Kita-Plätze oder überfüllte Schulklassen, in denen die ohnehin überlasteten Lehrer mit traumatisierten Flüchtlingskindern klarkommen müssten.

Oder - so argumentieren Anwohner im Hamburger Villenviertel Harvestehude - es ist kein billiger Supermarkt für die Flüchtlinge in der Nähe. Und das Grundstück, das die Stadt für den Bau des Heims erwerben musste, ist zu teuer. Da könnte man anderswo für weniger Geld mehr Flüchtlinge unterbringen! Was ja dann irgendwie für alle besser wäre.

Not in my backyard - "nicht in meinem Hinterhof" heißt dieses Phänomen. Was steckt dahinter? Eine Annäherung in vier Schritten.

1. Durch Flüchtlingsheime entstehen Konkurrenzsituationen

Viele der Argumente, die die Gegner von Flüchtlingsheimen vorbringen, sind eindeutig getrieben von Vorurteilen. Zwar betonen Polizei und Behörden, dass es keinen statistisch nachweisbaren Anstieg der Kriminalität in Gegenden gibt, in denen ein Flüchtlingsheim gebaut wurde. Trotzdem spielt die Angst vor "kriminellen Ausländerbanden" beim Entstehen der Proteste eine große Rolle.

Andere Bedenken jedoch entspringen eher dem Prinzip der persönlichen Nutzenmaximierung. Beziehungsweise der Angst, durch ein Flüchtlingsheim persönliche Nachteile zu erleiden. So sind Kita-Plätze in der Nähe der eigenen Wohnung in vielen Städten tatsächlich rar, die Schulklassen voll. Deswegen ruft die Aussicht, dass die eigenen Kinder nun auch noch mit Flüchtlingskindern konkurrieren müssen, Widerstand hervor. Ganz egal, ob die Angst nun begründet ist oder nicht.

Und tatsächlich ist wohl kaum jemand begeistert, wenn auf der Wiese direkt vor dem Haus, auf der die Kinder Fußball spielen, gebaut werden soll. Denn es verschlechtert sich dadurch ja die persönliche Lebensqualität, vielleicht wird der Ausblick verstellt, oder es können auf einmal andere Menschen ins eigene Wohnzimmer gucken. "Fremdenfeindlichkeit (...) ist nicht gleichzusetzen mit Rassismus, sondern kommt oft im Gewand des Ressourcenkampfes daher", schreibt etwa die Journalistin Elisabeth Niejahr in der Zeit.

In der Tat ist das NIMBY-Phänomen ja keines, das nur im Zusammenhang mit Flüchtlingsheimen auftaucht. Vielmehr kennt es wohl jeder Architekt, der in deutschen Städten Bauprojekte vorstellen muss, die auch nur irgendwie in das Wohlgefühl der Anwohner eingreifen: sei es, weil eine Straße gebaut, ein Baum gefällt oder eben die Aussicht versperrt wird.

2. Menschen rationalisieren ihre Ängste

Dennoch glaubt die Verhaltensökonomin Nora Szech, dass sich in der Debatte um Flüchtlingsheime rein verteilungstechnische Argumente nicht von Ressentiments trennen lassen. Ebensowenig die vermeintlich rationalen Argumente à la "Hier gibt es doch keinen billigen Supermarkt". Szech erforscht moralisches Verhalten auf Märkten und den Einfluss, den Institutionen darauf nehmen können. "Es ist durchaus möglich, dass manche Menschen vermeintlich rationale Gründe vorschieben, weil die politisch akzeptierter sind", sagt sie.

Dahinter steckt trotzdem oft die Angst, dass sich die eigene Umgebung zum Schlechteren verändert - und die wird zusätzlich geschürt durch Ressentiments, die Angst vor dem Fremden oder schlicht Unsicherheit gegenüber kulturellen Unterschieden, mit denen man ja tatsächlich erst einmal lernen muss umzugehen.

Menschen tendieren dazu, ihre Emotionen rational zu begründen, sagt auch der amerikanische Psychologieprofessor Jonathan Haidt im Interview mit dem Spiegel: "Der bewusste, räsonierende Teil dient vor allem dazu, die Entscheidungen und Neigungen des unbewussten, intuitiven Teils im Nachhinein zu begründen und zu rechtfertigen." Deutlich zeigt sich das daran, dass die rationalen Argumente häufig nur dann mit Freude aufgenommen und weitergegeben werden, wenn sie das eigene Gefühl stützen. Denn die Tatsache, dass statistisch für gewöhnlich kein Anstieg der Kriminalität in der Nähe eines neu gebauten Flüchtlingsheims erfolgt, kann noch so oft wiederholt werden: Die "besorgten Anwohner" nehmen sie nicht wahr.

Zum politischen Sprachrohr der "besorgten Anwohner" ist vielerorts die Alternative für Deutschland (AfD) geworden, die die "rationalen Argumente" für die Bürger vorbringt - so auch geschehen in Harvestehude. Das Heim sei zu teuer, für die Flüchtlinge sei eine Umgebung, in der sie sich nichts leisten können, ja auch nicht schön.

Das passt auch ganz generell zur Positionierung der AfD in der Flüchtlingsdebatte. Denn im vermeintlichen Rationalisieren emotional besetzter Themen ist die Partei unübertroffen. Sie fordert "klare Regeln" für Zuwanderung - und suggeriert, dass dank dieser Regeln das Problem, als das einige Deutsche Einwanderer sehen, gelöst werden könne. Die AfD teilt Zuwanderer grob gesagt in drei Gruppen ein: Die "guten" Flüchtlinge aus Bürgerkriegsgebieten wie Syrien oder Irak, denen man natürlich helfen müsse. Die ebenfalls "guten" Wirtschaftszuwanderer mit qualifiziertem Bildungsabschluss oder sonstigem Nutzen für die Volkswirtschaft. Und der nicht erwünschte Rest: Flüchtlinge, die aus rein wirtschaftlichen Erwägungen nach Deutschland kommen, aber nicht nützlich sind. Flüchtlinge, die sich "rechtsstaatlichen Verfahren entziehen", integrationsunwillige Muslime, kriminelle Ausländer.

In Wahrheit ist das natürlich gar nicht so leicht mit der Einteilung. Was ist denn zum Beispiel ein ausreichender Grund für eine Flucht? Muss dafür im Heimatland Krieg herrschen? Oder reicht es, wenn der Flüchtling im Gefängnis gesessen hat? Oder sogar, wenn er homosexuell ist in einem Land, in dem ihm wegen seiner Sexualität Verfolgung droht? Was ist mit Menschen, die aus wirtschaftlichen und politischen Motiven fliehen? Denn schließlich herrschen in armen Ländern oft auch politisch bedenkliche Verhältnisse. Korruption und Vetternwirtschaft gehen oft einher mit mangelhaften demokratischen Institutionen.

Ganz abgesehen davon, dass die Einteilung in drei Gruppen mit dem Widerstand gegen Flüchtlingsheime im Ort ja ohnehin nur am Rande zu tun hat. Schließlich wollen die meisten "besorgten Anwohner" auch kein Flüchtlingsheim voller "guter" Kriegsflüchtlinge vor der Nase haben. Sondern einfach gar keins.

Die AfD führt auch deswegen eine Scheindebatte, weil eine Einteilung der Zuwanderer in Gruppen die Gesellschaft in den eigentlich drängenden moralischen Fragen nicht weiterbringt. Wie gehen wir Europäer damit um, dass vor unseren Küsten Menschen im Mittelmeer ertrinken? Und wie fremd darf der deutschen Mehrheitsgesellschaft ein Fremder eigentlich bleiben?

3. Links reden, rechts leben

Derartige Fragen zu beantworten, ist zweifellos nicht leicht, den Blick weiter schweifen zu lassen als bis zum eigenen Vorgarten zuweilen unangenehm. Gerade, wenn man selbst genug Probleme hat. Wie etwa: wenig Geld. Oder keinen Schulabschluss. Gerade mangelnde Bildung muss oft als Argument dafür herhalten, warum sich Menschen gegen Flüchtlingsheime sträuben. Als Mittel dagegen gelten häufig: Aufklärung und Information.

Aber wie kommt es dann in einem Viertel wie Harvestehude, wo ein Großteil der Menschen über Geld, tendenziell gute Bildungsabschlüsse und einen beachtlichen sozialen Status verfügt zu Widerständen? "Wir wissen auch aus der Forschung ziemlich genau, dass so etwas wie Stereotype und Vorurteile nicht dadurch verschwinden, dass die Menschen gebildeter sind oder in sogenannten besseren Verhältnissen leben", sagt der Soziologe Armin Nassehi im Interview mit Deutschlandradio Kultur.

Was gerade in den Medien für Empörung sorgt, ist also wissenschaftlich betrachtet ganz normal. Dass nämlich Menschen mit Hochschulabschluss, die eigentlich SPD oder Grüne wählen, im Bio-Supermarkt einkaufen und liberale politische Ansichten vertreten, auch ein Problem mit einem Flüchtlingsheim vor der Tür haben können.

"Kulturell-intellektuell sind wir natürlich alle Universalisten", sagt Nassehi im Deutschlandradio. "Wir finden keine Argumente, dass bestimmte Personen weniger wert sind als andere, in der Praxisform, die wir haben, verhalten wir uns dann bisweilen anders." Der Soziologe kürzt das mit der griffigen Formel "Links reden, rechts leben" ab.

Es ist eben leichter, sich prinzipiell für die Errichtung von Flüchtlingsheimen auszusprechen, als dafür tatsächlich in Kauf zu nehmen, dass das eigene Grundstück an Wert verlieren könnte.

Bis zu einem gewissen Grad ist das Verhalten der "besorgten Anwohner" normal. Die Verhaltensökonomin Nora Szech etwa sagt: "Das menschliche Gehirn nimmt immer erst einmal das engere Umfeld war, nicht den großen gesellschaftlichen Kontext." Ebenso blendeten die meisten Menschen im Alltag viele gesamtgesellschaftliche Probleme aus, sagt Szech - selbst wenn sie ihnen eigentlich bewusst sind. Wer will schon jedes Mal an Massentierhaltung denken, wenn er ein Stück Fleisch im Supermarkt kauft? Oder an Textilfabriken in Bangladesch, wenn er ein T-Shirt anprobiert?

Wenn diese Distanz zwischen großer Politik und dem eigenen, kleinen Leben durchbrochen wird - etwa, weil die syrischen Flüchtlinge aus den Fernsehnachrichten plötzlich tatsächlich im Dorf stehen und Unterstützung wollen, die Bewohner dafür Opfer bringen müssen - dann ist das schwierig.

4. Die Akzeptanz von Umverteilung ist nicht immer gleich

Denn ja, so sehen es die "besorgten Anwohner": Sie sollen zugunsten eines politischen Ziels persönlich zurückstecken. Ganz egal, ob es sich bei ihren Vorbehalten um Ängste (kriminelle Ausländerbanden in der Nachbarschaft), reale Einbußen an Lebensqualität (bebaute Wiese vor dem Haus) oder um finanzielle Nachteile (fallende Grundstückpreise) handelt - insgesamt führt das zu dem Gefühl, ein Opfer bringen zu müssen.

Dass der Einzelne nicht ungehemmt den persönlichen Nutzen maximieren kann, sondern dass es gesellschaftliche Werte gibt, für die es sich zurückzustecken oder gar zu bezahlen lohnt, ist allerdings Grundgedanke eines Sozialstaats. Im Prinzip geht es ja auch in der Flüchtlingsfrage um Umverteilung: Sind wir bereit, ein Stück der eigenen Behaglichkeit - und zwar sowohl materiell als auch geistig - aufzugeben, um Menschen in Not zu helfen? Und wem genau wollen wir überhaupt helfen?

Dass Deutschland prinzipiell ein reiches Land ist, macht dabei die Debatte nicht einfacher, sondern schwieriger. "Die Widerstände steigen, je mehr es von staatlicher Seite zu verteilen gibt", schreibt Elisabeth Niejahr in der Zeit. "Mit dem Umfang der garantierten Sozialleistungen wachsen demnach die Vorbehalte gegenüber Fremden, die davon womöglich ohne eigene Leistung profitieren." Und: Die Bereitschaft zur Umverteilung ist in homogenen Gesellschaften größer als in heterogenen. Menschen geben lieber Menschen etwas ab, die ihnen selbst verhältnismäßig ähnlich sind.

Die Bedenken der "besorgten Anwohner" aus der Außenperspektive einfach als rückständigen Rassismus abzutun, ist deswegen tatsächlich zu bequem. Denn die dahinterstehenden moralischen Fragen gehen alle an.

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