Süddeutsche Zeitung

Protestbewegungen:Auf der Suche nach dem linken Wir

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Frankreich hat Nuit Debout, Spanien Podemos. Und Deutschland hat die AfD und Pegida. Wo ist die junge Linke?

Von Hannah Beitzer

Nuit Debout gibt es auch in Berlin. Jedenfalls auf Facebook. Dort erscheinen in einer Gruppe mit knapp 2000 Fans wöchentlich neue Veranstaltungen, Diskussionen und Versammlungen. Doch dafür interessiert bislang sich nur eine Handvoll Leute. Für eine Demo, die im Berliner Großstadtgewusel überhaupt auffällt, hat es noch nicht gereicht.

Frankreich hat Nuit Debout, hat auch noch die alten Gewerkschaften, die tagelang das Land lahmlegten. Spanien hat Podemos, in Griechenland stieg die linke Syriza sogar zur Regierungspartei auf. Und Deutschland? Hat als einzige nennenswerte Protestbewegung der vergangenen Jahre die AfD und Pegida hervorgebracht. Warum ist das so?

Das weltoffene, moderne Deutschland auf dem Rückzug

Das fragt sich auch die Schriftstellerin Jagoda Marinić: Wo sind die progressiven Kräfte, die jungen Linken, die Vertreter eines modernen, postmigrantischen, sozial gerechten Deutschlands? "Die Frage treibt mich schon eine Weile um", sagt Marinić.

Im Mai geriet sie in Barcelona in eine Demonstration zum weltweiten Aktionstag "Global Debout". Sie lief fasziniert neben jungen Hipstern und zahnlosen Alten her, neben Katalanen und Schwarzen, neben Alt-Kommunisten und linken Studentinnen. Das Miteinander der verschiedenen Gruppen begeisterte sie, ihr wütender Ernst, dass sie Bücher linker Autoren vor sich her trugen wie Ikonen. In Berlin nahmen an diesem Aktionstag nur einige Dutzend Menschen teil.

Die Autorin wühlt das auf. Denn sie ist der personifizierte Gegenentwurf zum Pegida-Land, wo Demonstranten Schilder mit der Aufschrift "Ich will nur Deutscher unter Deutschen sein" hochhalten. In den 70er Jahren kamen ihre Eltern als Gastarbeiter aus dem damaligen Jugoslawien nach Deutschland, sie selbst ist in Waiblingen geboren.

Was ist überhaupt deutsch?

Sie studierte in Heidelberg Lehramt, fing aber schon als Teenager an zu schreiben und wurde schließlich Schriftstellerin. Der erste Text, den sie veröffentlichte, war ein Kommentar für die doppelte Staatsbürgerschaft. Es folgten Romane und immer wieder politische Texte. Marinić bereist die ganze Welt und spricht dort als Repräsentantin eines modernen, offenen Deutschlands. Umso mehr trifft es sie, dass zu Hause gegenwärtig Gerede von Angst und Überfremdung die Debatte dominiert.

Zuletzt veröffentlichte sie einen Band mit Reden und Aufsätzen unter dem Titel "Made in Germany. Was ist deutsch in Deutschland?" Und für sie ist klar: "Gastarbeiter" und andere Migranten gehören selbstverständlich dazu. Für Marinić sind sie Visionäre - schließlich verließen sie, häufig mit nichts als der Hoffnung auf eine bessere Zukunft ausgestattet, ihre Heimat, um anderswo Erfolg zu suchen. "Genau diese Kraft, in der Zukunft etwas Besseres zu sehen, hat die Menschen immer weitergebracht", sagt sie.

Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen: Dieses hierzulande so beliebte Zitat von Helmut Schmidt kennt sie natürlich auch. Doch sie hält nichts davon. "Ja, ich bin Deutsche, und trotzdem belächle ich das Zitat von Helmut Schmidt und ahne nur, wie wenig dieser verstorbene Altkanzler, der heute so verehrt wird, von den Menschen weiß, die zu seiner Amtszeit in dieses Land kamen", schreibt sie.

Auch der Autor Wolfgang Gründinger, Jahrgang 1984, hat in seinem neuen Buch eine Abwandlung des Helmut-Schmidt-Zitats parat: "Wer in Deutschland Visionen hat, geht zum Arzt - oder ins Ausland", schreibt er in "Alte Säcke Politik - Wie wir unsere Zukunft verspielen".

Gründinger ist so etwas wie der oberste Lobbyist der jungen Generation in Deutschland, sein ganzes Leben schon beschäftigt er sich mit sozialer Gerechtigkeit. Er ist Mitglied der SPD, hat Bücher über Energiepolitik und die politische Einstellung junger Menschen geschrieben und ist Sprecher der "Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen". Wann immer es in einer Talkshow um Politik für oder von jungen Leuten geht, ist Gründinger dabei.

In seinem neuen Buch zeichnet er nun ein düsteres Bild seiner Heimat. "Deutschland ist ein Land, das längst vergangene Stadtschlösser wieder aufbaut und gleichzeitig Jugendclubs schließt, ein Land, das über Nacht zig milliardenschwere Rentenpakete schnürt, aber zugleich Förderprogramme für Kitas auf Eis legt." Ein Land auch, in dem die Generation der über 60-Jährigen so reich ist wie nie. Junge Arbeitnehmer sich aber mit Zeitverträgen, Werkverträgen, Befristungen herumschlagen müssen - wohlwissend, dass ihre Rente unmöglich sicher sein kann. Während das ganze Land sich mit Altersarmut beschäftige, sei in Wahrheit Kinderarmut ein viel größeres Problem.

Viele Alte, wenige Junge

Gründinger führt in seinem Buch die Demografie ins Feld, um seinen Vorwurf der "Alte Säcke Politik" zu begründen. Die Gruppe der Alten werde schlicht immer größer, die der Jungen immer kleiner. "Hätte eine Partei sämtliche Wähler unter 21 mobilisiert, hätte das nicht einmal für die Fünf-Prozent-Hürde gereicht", rechnet er anhand der Bundestagswahl 2013 vor, "Hätte sie dagegen alle Wähler über 70 auf ihre Seite gebracht, wären dies bereits mehr als ein Fünftel aller Stimmen."

Die "Alte Säcke Politik", also eine Politik, die sich an den Interessen der Alten orientiert, ist für Gründinger die logische Folge. Ihm gelingt anhand zahlreicher Umfragen der Beleg, dass Junge und Alte häufig in unterschiedlichen Lebensrealitäten unterwegs sind, andere Schwerpunkte setzen und andere Interessen vertreten. Häufig seien die Jungen progressiver, offener, zukunftsorientierter. Die älteren Menschen hingegen konservativer, mehr am Schutz des Bestehenden interessiert.

Das fängt bei Kleinigkeiten wie dem Hotpants-Verbot an Schulen an: Die Alten sind dafür. Die Jungen - die es betrifft - dagegen. Auch in der Einstellung gegenüber emanzipatorischen Themen wie der Homo-Ehe zeigt sich eine Generationenkluft. Zuletzt spielte das Thema auch im britischen Referendum über den EU-Austritt eine Rolle. Die Alten waren dafür, die Jungen dagegen. Pech für die Jungen.

Jung gleich progressiv, Alt gleich rückwärtsgewandt - dass das nicht immer stimmt, weiß Gründinger. Seine "Alte Säcke Politik" möchte er nicht nur am Alter festmachen. Sie ist für ihn Ausdruck einer Politik, die weniger an die Zukunft denkt, als in der Vergangenheit verharrt. Die ängstlich ist statt visionär.

Engagieren sich die Jungen nicht genug?

Dennoch sei die junge Generation, das zeigt Gründinger anhand zahlreicher Umfragen, toleranter, offener gegenüber fremden Kulturen und weniger fremdenfeindlich als die alte. Eine große Mehrheit der jüngeren Deutschen denke zum Beispiel, der Islam gehöre zu Deutschland, schreibt Gründinger. Eine große Mehrheit der Älteren denkt das genaue Gegenteil. Pegida und die AfD sind für ihn die schlimmsten Auswüchse der "Alte Säcke Politik". Hier treffen sich dann die Zustandsbeschreibungen von Gründinger mit denen von Jagoda Marinić. Im Moment dominiert nämlich diese ängstliche, verschlossene Seite Deutschlands.

Doch ist politisches Durchsetzungsvermögen wirklich nur eine Frage von zahlenmäßiger Überlegenheit? Nicht unbedingt, denkt Gründinger. "Die 68er waren ja auch keine Massenbewegung, das war eine kleine Gruppe Studierender, die auf die Straße gingen", sagt er. "Trotzdem haben sie das Land verändert, ein Erbe hinterlassen." Weil sie laut waren, entschieden.

Damit ist man schnell wieder bei einem altbekannten Vorwurf. Engagieren sich gerade die progressiven Jungen zu wenig? Vergessen sie vor lauter Karriere, Auslandsreisen und Party ihre eigene Zukunft? Auch das stand nach dem Brexit schnell im Raum, als klar wurde, dass die Wahlbeteiligung unter jungen Briten niedriger war als unter alten.

Gründinger wehrt sich gegen die Behauptung, die junge Generation sei politisch uninteressiert. "Es stimmt, dass viele Studenten heute nicht mehr die Zeit für politisches Engagement haben. Es hat sich aber nach vorne verlegt, schon Schüler haben heute viel Ahnung von Politik und sind sehr engagiert", sagt er. Sie interessierten sich für das, was in ihrer Umgebung passiert, ernährten sich vielleicht vegetarisch oder starteten Online-Petitionen.

Was aber auch feststeht: Den Weg in die altehrwürdigen Institutionen, Parteien und Gewerkschaften finden sie selten. Das Engagement bleibt häufig themenbezogen, punktuell. Das führt zum entscheidenden Punkt. "Wenn ich meiner Generation etwas vorwerfen würde, dann das: Jeder macht sein eigenes Ding, anstatt mal zu gucken, wo man sich zusammentun kann, wo man Verbündete findet", sagt Gründinger. Das passt zu Analysen, wonach die junge, vor allem akademische Linke zu wenig Bezug zu anderen Bevölkerungsgruppen habe.

1000 Websites - aber keine Durchschlagskraft

Neulich habe ihn zum Beispiel eine Freundin angesprochen: Sie interessiere sich für soziale Gerechtigkeit, wolle sich engagieren. "Ich habe gesagt, sie soll sich mal in ihrer Stadt umsehen, welche Bündnisse und NGOs es so gibt." Zwei Wochen später kam eine Mail mit einem Link: "Guck mal, meine neue Homepage." Darauf hatte die Freundin Zahlen zur mangelnden sozialen Gerechtigkeit in Deutschland gesammelt. "Aber wenn jeder seine eigene Homepage strickt, haben wir irgendwann 1000 Websites - und immer noch keine politische Durchschlagskraft", sagt Gründinger.

Klar, irgendwo mitmachen bedeutet: sich einordnen, die eigenen Interessen mit anderen abgleichen, vielleicht auch einmal nicht den eigenen Willen kriegen, Kompromisse eingehen zu müssen. Schriftstellerin Jagoda Marinić versteht das Unbehagen darüber einerseits: "Durch die deutsche Konsenskultur ist bei vielen der Eindruck entstanden: Es kommt ohnehin nur überall dieselbe Suppe raus." Dennoch plädiert sie dafür, sich zusammenzuschließen - und sich dabei ruhig etwas von den ollen Gewerkschaften und den alten Parteien abzugucken.

Doch in vielen jungen, linken Bewegungen passiert das genaue Gegenteil. "Jeder spricht hier nur für sich" ist häufig ihr Motto, alles, was nach Partei oder alter Organisationsform aussieht, stößt auf Ablehnung. An der Aufgabe, gemeinsame Positionen mit politischer Durchschlagskraft zu entwerfen, scheitern sie ebenso wie daran, Bündnisse mit anderen Akteuren zu schaffen.

Marinić sieht noch ein weiteres Problem jener Menschen, die eigentlich dasselbe wollen wie sie. "Manchmal fehlt die Fähigkeit, sich selbst in einem größeren, vielleicht sogar weltpolitischen Kontext zu sehen", sagt sie. Beispiel dafür seien auch die Flüchtlingshelfer. An und für sich stellen sie die größte zivilgesellschaftliche Bewegung seit Bestehen der Bundesrepublik. "Doch das Engagement wird entpolitisiert", sagt Marinić. Da gehe es um pragmatische Fragen, um humanitäre Nothilfe - aber nicht um die Frage, in welchem Deutschland wir eigentlich leben wollen.

Auch das ist ein Punkt, in dem sich die Analyse von Marinić mit der von Gründinger trifft: Das "Wir", das Pegida und Co. mit ihrem Ausspruch "Wir sind das Volk" so selbstbewusst wie frech für sich beansprucht - ihren Gegnern kommt es allzu oft gar nicht erst über die Lippen.

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