Protestbewegung "Occupy" in Europa:Sie sind viele und sie sind wütend

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In New York besetzt die "Occupy"-Bewegung die Wall Street, jetzt schwappt der Protest auch nach Europa. Am Samstag werden in zahlreichen deutschen Städten Menschen auf die Straße gehen - gegen die Finanzmärkte und gegen "das System". Wer steckt dahinter? Und was fordern die Aktivisten?

Lydia Bentsche

Als Zombies geschminkt oder mit Gesichtern, überströmt von Kunstblut, ziehen junge Leute durchs New Yorker Börsenviertel. Neben ihnen schwenken adrett gekleidete Anwälte, hippe Webdesigner und Maurer in Arbeitskleidung Plakate. Tausende protestieren seit Wochen gegen die Macht der Banken und die wachsende soziale Ungleichheit in den USA.

Jetzt schwappt die Protestwelle über den Atlantik. Am Samstag wird es in deutschen Städten ähnliche Bilder geben wie in New York. Aus "Occupy Wall Street" wird "Occupy Deutschland". Bundesbürger wollen auf der Straße ihrem Ärger Luft machen. Wie viele es sein werden, weiß niemand so genau. Wer dahinter steckt, ist auch nicht klar.

Echte Demokratie Jetzt, Occupy, Wir sind die 99 Prozent, United for Global Change, Anonymous, 15. Oktober. So lauten die Namen und Slogans im Internet. Ein Riesenthema auf Facebook, Twitter, YouTube und in Blogs. Alle zielen auf Samstag ab: Es soll ein großer globaler Protesttag werden. In fast 50 deutschen Städten - und in mehr als 70 Staaten - sind Kundgebungen, Demonstrationen und Versammlungen geplant. Gegen die Finanzindustrie, gegen "das System". Und um sich laut über den Verlust "unserer Rechte" zu empören.

Kritiker werfen den Demonstranten vor, sie wüssten nicht, was sie wollen. Doch genau das ist gewollt. Die Aktivisten wollen sich nicht einordnen und in keine politische Ecke stellen lassen. Sie wollen keiner Struktur folgen und keine Zentrale aufbauen. Es gelingt nicht, sie zu fassen, diese große, heterogene Ansammlung Einzelner, diese massive Bewegung, die doch irgendwie als Einheit auftreten möchte.

"Wenn Dich jemand fragt, wer hinter diesem Aufruf steht, weißt du, was du antworten kannst: 'Ich'", ist auf der Website von "Echte Demokratie Jetzt" zu lesen. Der gesunde Menschenverstand jedes "normalen Bürgers" sei gefragt, alle gemeinsam sollen entscheiden, wie die Welt von morgen aussieht.

Die Wurzeln des Protests liegen nicht in den USA, sondern in Spanien

Eine Graswurzelbewegung? Kein Zweifel, die Proteste gehen von unten, vom einzelnen Bürger aus. Doch sie erhalten Unterstützung von Altbekannten. Allen voran ruft Attac zum globalen Protest am 15. Oktober auf - sieht dessen Wurzeln aber nicht in den USA. Die Demonstrationen und Platzbesetzungen an der Wall Street hätten Menschen auf der ganzen Welt ermutigt, am Samstag ihre Stimmen zu erheben. Die erste Demokratie aber, in der in diesem revolutionären Jahr Menschen auf die Straße gingen, sei Spanien gewesen.

"Democracia Real Ya!", "Echte Demokratie Jetzt!", forderten Tausende am 15. Mai in Madrid - und campierten wochenlang für mehr Teilhabe, gegen Kürzungen im Sozialbereich und gegen die Korruption des politischen Systems. Bereits am 30. Mai beschlossen die Demonstranten in Spanien: Der 15. Oktober soll Tag des weltweiten Protests werden. Da gab es Occupy Wall Street noch gar nicht.

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"Wir sind Teil einer internationalen Demokratiebewegung, einer weltweiten Sache", sagt Mike Nagler, Mitglied im Koordinierungskreis von Attac Deutschland. Es brauche übergreifende Solidarität für ein staatenübergreifendes Problem. "Wir sind alle betroffen, wir wollen alle mitreden. Deshalb möchten wir den Menschen ein Podium bieten und über Alternativen sprechen." Was die Alternativen im Sinne von Attac sind, sagt Nagler auch: Überführung der Banken in die öffentliche Kontrolle, Stopp aller Sozialkürzungen - "egal ob in Deutschland oder Griechenland" - und höhere Bürgerbeteiligung.

In den USA protestieren die Menschen seit Wochen gegen die Banken. Über das Internet schwappt die Bewegung jetzt auch nach Europa. Doch wer sind die Aktivisten? (Foto: AP)

Attac bekommt leicht Aufmerksamkeit für seine Forderungen. Die Gruppe hat sich einen Namen gemacht, wird von bekannten Gesichtern wie Heiner Geißler, Bela B. und Günter Grass unterstützt. Bei Wolfram Siener ist die Sache komplizierter. Auch er ist nicht mehr bereit, weiter in diesem System mitzuspielen, das eine Krise nach der anderen produziert. "Dem Volk muss endlich wieder Respekt entgegengebracht werden", fordert er. Erst seit zehn Tagen weiß Siener, was am Samstag auf ihn zukommt. Aus dem Nichts ernannten ihn etwa 50 Teilnehmer eines Live-Chats nach kurzer Diskussion zum Pressesprecher von "Occupy Frankfurt".

Siener ist ein besonderer Pressesprecher, der mit besonderen Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Erstens schreibt er die Pressemitteilungen, in denen zum gesellschaftlichen Wandel aufgerufen wird, nicht allein. Das Piratenpad der Piratenpartei, eine Software, ermöglicht es jedem, im Internet an einem Text mitzuschreiben, Ergänzungen einzufügen und Vorschläge zu posten. Graswurzel-Pressearbeit. Und zweitens weiß Siener gar nicht so genau, in wessen Namen er spricht, wenn ein Journalist anruft. Und für wie viele Menschen er spricht.

Trotzdem wird er am Donnerstagabend vor den Kameras mit Maybritt Illner plaudern. Als Vertreter von Occupy Frankfurt. Er wird einer Bewegung sein Gesicht geben. Einer Bewegung, die keine Bewegung sein will, sondern die gerade von vielen einzelnen Gesichtern leben will.

Sie sind nur eine lose Gruppe, doch einen Pressesprecher haben sie

Eine lose Gruppe sei Occupy Frankfurt, Teil einer globalen Bewegung, die sich gegen die Macht der Finanzmärkte und Banken richtet. Organisiert übers Internet, irgendwie verbunden mit Occupy Germany, das von Occupy Wall Street inspiriert ist. Ein institutionelles Geflecht gibt es nicht, echten Austausch gibt es nicht. Soll es nicht geben.

Mindestens 400 Aktivisten dieser losen Bewegung wollen am Marsch zur Europäischen Zentralbank teilnehmen, die Occupy Frankfurt gemeinsam mit Attac in der Bankenstadt organisiert. "Dann noch die Anhänger von Attac. Und dann wird sich's bis ins Vierstellige vermehren", ist Siener sicher. Wenn die Menschen auf der Straße den Protestzug sehen und hören, werden sie sich anschließen. "Dieses Gefühl, betrogen und hintergangen worden zu sein, steckt in den Menschen selbst, nicht in unserem Aufruf."

Weder die Veranstalter noch das Ordnungsamt Frankfurt am Main können das Ausmaß der Proteste genau abschätzen. Vier Demonstrationen, zwei von Attac und zwei von Occupy Frankfurt, seien gemeldet, sagt Ralph Rohr, Pressesprecher des Ordnungsamts. Das Gespräch zwischen Veranstalter, Ordnungsamt und Polizei stehe noch aus, deshalb sei unklar, wie viele Menschen erwartet werden.

In Berlin, wo die Proteste auch groß werden sollen, weiß die Polizei bisher von zwei Kundgebungen, einer mit etwa 350 Menschen, einer mit 1000. Zwölf Gruppen und Veranstaltungen sind in Facebook unter "Occupy Berlin" gelistet. Mehr als hundert Personen haben am Donnerstagmittag ihre Teilnahme bestätigt, fast 2500 auf "Gefällt mir" geklickt. Etwa 1500 User haben für Hamburg, 250 für München und drei für das Studentenstädtchen Witzenhausen, etwa 30 Kilometer östlich von Kassel, ihre Unterstützung für Samstag angekündigt. "Es werden keine Massendemos", sagt Mike Nagler von Attac. "Aber ganz sicher kein Flop."

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Die New Yorker Polizei hat mehr als 700 Anti-Wall-Street-Demonstranten festgenommen, die auf der Brooklyn Bridge den Verkehr lahmgelegt hatten. Die Protestierendenwerfen der Polizei vor, sie in die Falle gelockt zu haben.

Zum Gelingen soll auch die mediale Aufbereitung beitragen, die viele Aktivisten nicht in den klassischen Medien sehen wollen, weil sie sie für die Krise mitverantwortlich machen: Schlecht und zu spät hätten sie über die Proteste in Spanien, Griechenland und den USA berichtet. Und Polizei-Übergriffe ignoriert. Ein bisschen Verschwörungstheorie ist auch dabei. Ähnlich wie bei Fluegel.tv zu Stuttgart 21.

Um die Protest-Berichterstattung kümmern sich unter anderem Ulrich Riebe und Tom Stelling. Seit den spanischen Protesten im Mai sehen sich die beiden Männer aus Konstanz als "Bürgerjournalisten, denen es um die Darstellung und Unterstützung von Bürgerbewegungen für sozialen Wandel in demokratischen Ländern geht", schreiben sie auf ihrer Website Echte Demokratie Jetzt. Sie sei eine "schnelle Informationsplattform, die zum Teil auch kommentiert, hervorhebt und übersetzt", erklärt Stelling.

Seit Oktober, kurz nachdem die Anti-Wall-Street-Proteste begannen, sind die Zugriffszahlen auf Echte Demokratie Jetzt rasant angestiegen: Besuchten früher etwa 200 Menschen täglich die Website, sind es jetzt 3000. "Die Menschen fangen an, grundsätzliche Fragen zu stellen", sagt Stelling. Fragen, auf die es vielleicht keine Antworten gibt. "Endlich."

Von dieser Neugierde wollen inzwischen auch Die Linke, die Grünen und die Verdi-Jugend profitieren. Auch ihre Mitglieder rufen zu den Protesten am Samstag auf. Schon sieht manch ein Beobachter die Aktivisten in die Vereinnahmungsfalle tappen: Seien traditionelle Gruppen an der heterogenen Bewegung beteiligt, werde sie ihre Unabhängigkeit und ihre Glaubwürdigkeit einbüßen. Attac-Organisator Nagler beschwichtigt: "Ich begrüße jeden Unterstützer, der die Veranstaltung nicht für sich vereinnahmen will."

Ob die globale Protestbewegung über den 15. Oktober hinaus andauert, kann noch niemand beantworten. Das Ordnungsamt Frankfurt am Main hat jedoch bereits Kenntnis einer anhaltenden Entwicklung. Eine der Versammlungen von Occupy Frankfurt sei als "Dauer-Demo" auf unbestimmte Zeit angedacht, sagt Pressesprecher Ralph Rohr. Gegenüber der Europäischen Zentralbank wollen Aktivisten ihre Zelte aufschlagen. "Zwei bis drei Zelte mit zwei bis drei Mann wurden angekündigt."

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