Süddeutsche Zeitung

Protestbewegung in Russland:Warum Deutschland die Kreml-Kritiker ernst nehmen muss

Der Skandal um angebliche Fälschungen bei der Parlamentswahl, die Massendemonstrationen gegen Regierungschef Putin: Die russische Protestbewegung trifft Deutschland unvorbereitet, mit einem Vorstoß für mehr Demokratie hat man in Berlin nicht gerechnet. Deutsche Kanzler galten stets als Russland-Versteher, am Verständnis für die neue Demokratiebewegung hapert es dagegen noch.

Daniel Brössler

Zu den Themen, von denen Angela Merkel nach Einschätzung ihrer ausländischen Kollegen etwas versteht, gehört Russland. Wann immer hinter Kremlmauern Rätselhaftes vor sich ging, war die Kanzlerin eine gefragte Deuterin. Sie spricht gut Russisch. Sie kennt das Land. Und sie schien stets über einen guten Draht zu Präsident Dmitrij Medwedjew zu verfügen. Hinzu kommt etwas, das noch wichtiger ist: Die Deutschen gelten als die Russland-Versteher unter den westlichen Völkern. Oft halten sie sich auch selber dafür.

Umso größer fällt nun hierzulande die Verblüffung aus über das Ausmaß der russischen Protestbewegung. Zwar hat der zwischen Medwedjew und Wladimir Putin ausgehandelte Ämtertausch auch in Berlin irritiert. Ebenso wenig wie anderswo aber wurde hier vorausgesehen, welche Wirkung diese Farce zusammen mit den Hinweisen auf die Fälschung der Parlamentswahl entfalten würde.

So vorsichtig Analogien zum arabischen Frühling dosiert werden sollten, so gilt doch: Man kann Umwälzungen nicht immer voraussehen. Man muss aber rechtzeitig die richtigen Schlüsse ziehen. Deutschland steht nun deshalb vor der Frage, ob es Russland wirklich richtig verstanden hat. Es geht dabei nicht primär, jedenfalls nicht nur, um die engen Beziehungen zum Kremlchef, die seit der europäischen Wende jeder deutsche Kanzler gesucht hat. Die braucht es zwar, denn das Einvernehmen mit Russland, das Teil der deutschen Staatsraison ist, lässt sich eben kaum an den Machthabern vorbei herstellen.

Freunde der "gelenkten Demokratie"

In Deutschland hat es aber, mehr als in anderen Ländern des Westens, stets den Drang gegeben, weiter zu gehen. Politiker, Diplomaten und Wirtschaftsleute schwangen sich auf zu Verteidigern jener "gelenkten Demokratie", die mit Lenkung alles und mit Demokratie nichts zu tun hatte. Zwar nicht alleiniger Urheber, aber doch Symbolfigur dieser Politik ist Gerhard Schröder. Durch seine Freundschaft zu Putin und seine Tätigkeit für die Ostsee-Pipeline verstärkt er zudem den Eindruck deutsch-russischer Bande, in denen das Geschäft über alles geht.

Keineswegs nur von Schröder ist Kritikern des autoritären Systems in Russland vorgehalten worden, sie würden überheblich westeuropäische Maßstäbe auf Russland übertragen. Zudem würden sie die Wünsche des russischen Volkes ignorieren, das eine starke Führung durchaus befürworte. Kritiker des Systems wurden so zu Kritikern Russlands erklärt. Mehr noch: Für Gespräche mit Russen wurde im Petersburger Dialog eine kremlnahe Infrastruktur geschaffen, in der Kritik am Moskauer Herrschaftssystem nur in Maßen geduldet wurde.

Niemand weiß, was die Menschen erreichen werden, die auf russischen Straßen faire Wahlen fordern. Mindestens aber sollte es eine neue Sicht des Westens auf das Land sein. Nicht die Putin-Kritiker sind es, die Russland herablassend behandeln. Überheblich sind jene, die den Russen keine Demokratie zutrauen.

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SZ vom 28.12.2011/olkl
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