Süddeutsche Zeitung

Protest in Gaza:"Wir Sniper sind zum Töten ausgebildet, wir stoppen keinen Protest"

Lesezeit: 4 min

Der ehemalige israelische Scharfschütze Nadav Weiman kritisiert seine Regierung und den Einsatz von Kampfsoldaten in Gaza - und beschreibt, wie es sich anfühlt, ein Leben zu beenden.

Interview von Jana Anzlinger

Die Bilder der Massenproteste im Gazastreifen vom Montag gehen um die Welt. Nach palästinensischen Angaben sind am 70. Jahrestag der Gründung Israels 61 Menschen getötet und mehr als 2700 verletzt worden. Von den israelischen Soldaten auf der anderen Seite des Zauns gibt es weniger Bilder. Ihr Job ist, jene Menschen aufzuhalten, die auf die Grenze zurennen. Wie fühlen sich die israelischen Soldaten dabei?

Nadav Weiman war von 2005 bis 2008 Elitesoldat in einer Scharfschützeneinheit und wurde vor allem im Westjordanland eingesetzt. Danach hat er Jahre gebraucht, um seine Erlebnisse als Scharfschütze zu verarbeiten. Inzwischen leitet der 32-Jährige die Bildungsabteilung von Breaking the Silence, wo ehemalige israelische Soldaten Zeugnis ablegen. Die Organisation ist vor allem in Israel umstritten, 2017 hat der damalige Bundesaußenminister Sigmar Gabriel einen diplomatischen Eklat verursacht, weil er sich mit Vertretern von Breaking the Silence traf.

SZ: Haben Sie je auf protestierende Palästinenser geschossen?

Nadav Weiman: Nein. Ich kann kaum glauben, dass jetzt Scharfschützen gegen Protestierende eingesetzt werden. Scharfschützen schießen gezielt einzelne Personen ab; wer unbewaffnete Demonstranten warnen will, setzt normale Soldaten ein. Wir Sniper sind zum Töten ausgebildet, wir stoppen keinen Protest. Unser Job ist es, unbemerkt irgendwo zu liegen, sehr lange zu warten und schließlich einen Schuss abzugeben, der trifft.

Kann man das wirklich nur als Job empfinden, Menschen zu erschießen?

In dem Moment fühlt es sich so an. Man zielt möglichst genau, um seine Aufgabe zu erfüllen. Manche prahlen mit der Zahl ihrer Opfer. Die Formulierung ist dann aber nicht "soundsoviele Tote", sondern "soundsoviele Kreuze am Gewehr". Wie es für diejenigen war, die in letzter Zeit am Grenzzaun stationiert waren, weiß ich nicht. Es kann sich schon anders anfühlen, wenn man auf unbewaffnete Frauen oder Kinder schießen muss, von denen keine Gefahr ausgeht.

Mir war immer bewusst, dass ich ein Leben beende. Wenn ich durch das Zielfernrohr einen Menschen anvisierte, dachte ich: Ich sehe jetzt die letzten Momente seines Lebens mit an. Ich wusste beim Abdrücken, dass ich das für immer vor mir sehen werde. Das ist, wie wenn Sie sich ein Bein brechen oder einen Autounfall haben, das vergessen Sie nie.

Ein Beinbruch oder ein Unfall ist etwas, das mir ungewollt zustößt. Ein Gewehr feuert man absichtlich ab.

Ja, aber es sind alles Beispiele für Traumata. Jemanden zu erschießen ist traumatisch. Auch wenn uns beigebracht wurde, dass von den Palästinensern eine Gefahr für uns und unser Land ausgeht. Es ist verwirrend.

Bei den Gaza-Protesten hatten die Scharfschützen nach Angaben der israelischen Armee Weisung, nur nach Warnung und auf die Beine zu schießen.

Ja, das macht man, um Menschen auszuschalten. Zum Beispiel können die identifiziert werden, die den Protest anleiten, die etwa am lautesten skandieren. Da zielt man auf den Knöchel oder in die Kniescheibe. Über dem Knie wird es dann lebensgefährlich wegen der Schlagader im Oberschenkel. Es lässt sich steuern, ob man jemanden verletzt oder erschießt. Die Zahl von mehr als 60 Toten ist verrückt.

Unter den Todesopfern der vergangenen Wochen sind 14- und 15-Jährige. Gibt es für Kinder und Jugendliche keine Ausnahmen?

Manchmal wird unterschieden zwischen "unter 1,40 Meter groß" und "über 1,40 Meter groß", aber normalerweise gibt es keine spezifischen Ausnahmen für Kinder: Wenn von einem Palästinenser eine Gefahr ausgeht, musst du ihn töten. Die drei rules of engagement gelten für alle. Diese drei Regeln sind sehr, sehr einfach: Wer dich bedroht, muss Mittel, Absicht und Möglichkeit haben. Dann darfst du schießen. Er muss zum Beispiel einen Molotow-Cocktail in der Hand haben, diesen werfen wollen und in Wurfweite stehen. Wer 400 Meter weit weg mit einem Messer wedelt, ist keine Bedrohung.

Und diese drei Regeln gelten für jeden?

Für jeden Palästinenser. Für Israelis nicht. Mir wurde damals im Westjordanland eingebläut: Wenn theoretisch ein Siedler mit dem Gewehr vor dir steht und dich umbringen will, dann versteck dich hinter einem großen Stein und warte, bis seine Munition leer ist. Dann musst du die Grenzpolizei rufen, du selbst darfst ihn nicht anrühren. Siedler stehen über dem Gesetz.

Haben die Protestierenden im Gazastreifen Mittel, Absicht und Möglichkeit?

Ich bin nicht vor Ort, aber ich glaube: nein. Für mich wird da ein unbewaffneter Protest zum bewaffneten Konflikt erklärt. Bislang ist kein israelischer Soldat gestorben, keinem israelischen Zivilisten wurde ein Haar gekrümmt, kein Kibbuz wurde überrannt.

Wie soll sich Israel denn Ihrer Meinung nach verteidigen?

Man kann Menschen mit Tränengas oder mit Gummigeschossen verletzen und abschrecken oder man kann sie irgendwie anderweitig warnen. Ich finde vor allem, dass solche Proteste künftig verhindert werden können, indem Israel aufhört, Palästinenser zu unterdrücken.

Als ich zum ersten Mal in meinem Leben im Westjordanland war, starrten mich die Leute auf der Straße mit dieser Mischung aus Angst und Hass an. Ich dachte lange Zeit: Das ist, weil sie Juden hassen. So sagt es ja auch unsere Regierung. Irgendwann habe ich gemerkt: Die starren mich so an, weil ich Soldat bin und ihr Land besetze.

Sie haben Jahre nach Ihrem Wehrdienst angefangen, öffentlich über Ihre Erlebnisse zu sprechen. Warum?

Weil die Bilder mich nicht losließen. Wir haben Menschen am Checkpoint eingeschüchtert. Wir haben mitten in der Nacht Privathäuser gestürmt, die Familie geweckt und aus dem Bett gezerrt. Dann haben wir sie stundenlang in ein Zimmer gesperrt, damit wir von den Fenstern ihrer Wohnung aus im Dunkeln auf Menschen schießen können. Bei fünf Einsätzen in drei Jahren hat meine Einheit gezielt Palästinenser getötet.

In Israel muss jeder Militärdienst machen - warum erfährt die Öffentlichkeit das alles erst von Ihnen?

Den Wehrdienst muss längst nicht jeder ableisten, zum Beispiel gibt es Ausnahmen für verheiratete Frauen, Orthodoxe und Siedler. Von den übrigen Wehrdienstleistenden werden die meisten nicht Kampfsoldaten, noch weniger werden Scharfschützen - und die wenigsten werden in solchen Gebieten eingesetzt wie ich damals. In meiner Einheit waren wir zu zwölft. Nach dem Dienst hat kein einziger in der Armee Karriere gemacht. Wir alle hatten genug.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3980319
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ.de
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.