Aus der Distanz könnte man meinen, da habe jemand einen ungewöhnlich großen Haufen Brennholz in die Landschaft gestapelt. Doch dann wird klar, was sich da in die Talsenke duckt. Tschechiens skandalösester Bau, der nicht nur architektonisch immer mehr Bürgern ins Auge sticht: Čapí Hnízdo, das "Storchennest". Der Stein und Holz gewordene Luxusressort-Traum jenes Mannes, der nicht nur als Unternehmer zum zweitreichsten Mann des Landes aufgestiegen ist, sondern dieses Land seit 2017 auch regiert.
Um den letzten Zweifel auszuräumen, dass man hier, 50 Kilometer südlich der Hauptstadt Prag, auf dem richtigen Weg ist, grüßt am Wegrand, kurz vor dem Eingang zu dem sauber getrimmten Areal, ein mannshoher Holzstorch. Drinnen dann, von nicht ganz so storchenhafter Statur, wartet ein Türsteher, der die Besucher mit stechendem Blick darauf hinweist, dass sie gern ins Restaurant dürften, der Rest des Geländes aber für Nicht-Übernachtungsgäste "geschlossen" sei.
Andrej Babiš, Tschechiens Premier, hat Gründe dafür, nicht allzu viele neugierige Tagesausflügler an diesem Ort zu wünschen. Sein Storchennest ist zum Symbol für das geworden, was immer mehr Bürger ihm vorwerfen: dass er sein Wahlversprechen, das Land "wie ein Unternehmen" zu führen, ein bisschen zu konsequent einlöst.
Tschechien:Demonstranten fordern Rücktritt von Premierminister Babiš
Tschechiens Ministerpräsident steht im Verdacht, als Unternehmer jahrelang unrechtmäßig von EU-Subventionen profitiert zu haben. Die Veranstalter sprechen von 120 000 Teilnehmern.
Im Wochenrhythmus versammeln sich Zehntausende in den Städten, um Babiš' Rücktritt zu fordern, seit der im April eine alte Vertraute zur Justizministerin ernannte. Ihr Vorgänger war zurückgetreten, kurz nachdem die Polizei ihre Ermittlungen zum Fall Storchennest an die Staatsanwaltschaft übergeben hatte. Zuvor hatte schon die EU-Antibetrugsbehörde festgestellt, dass Babiš rund 1,64 Millionen Euro an Subventionen aus Brüssel für den Bau des Kongresshotels zu Unrecht erhalten habe.
Dann hatte sich auch noch per Videobotschaft der 35-jährige Sohn des Ministerpräsidenten an die Öffentlichkeit gewandt: Sein Vater habe ihn auf die Krim entführen lassen, damit er in der Causa Storchennest nicht aussagen könne.
Dem Besucher präsentiert sich dieses Storchennest höchst aufgeräumt; der Sandstrand am Teich ist frisch geharkt, ein Schild verbietet das Baden, der Spielplatz samt Piratenschiff zum Klettern ist komplett frei von lärmenden Kindern. Nur ein junges Paar schlendert um den von Ästen umwundenen Kuppelbau in der Mitte; sie, Sommerkleid und glitzernde Ohrringe, stellt sich davor lächelnd in Pose, er, schmal rasierte Koteletten und muskelbetonendes T-Shirt, fotografiert sie.
Der Storch interessiert sich nicht für EU-Subventionen - die Tagesausflügler auch nicht
Nein, für Politik interessiere er sich nicht, sagt der Mann, das Gebäude aber gefalle ihm, und nach skeptischem Zögern erzählt er: Er komme aus dem Nordwesten des Landes, einer unterdurchschnittlich beglückten Gegend, und dort habe sich unter Babiš vieles zum Besseren entwickelt. Seinen Namen dürfe er leider nicht verraten, er arbeite im Staatsdienst, genauer gesagt, bei der Armee. Da sei sein Gehalt übrigens unter Babiš um satte 30 Prozent erhöht worden.
Dann fällt ihm doch noch etwas ein, was ihm nicht so gefällt: Dass Leute mit einem "normalen" Einkommen, also Leute wie er selbst, es sich wohl nie werden leisten können, einmal hier zu übernachten. Umgerechnet 270 Euro kostet das Zimmer die Nacht, tja, andererseits sei das ja genau das, was reiche Leute auf der ganzen Welt tun: in Luxusimmobilien investieren. Und Babiš sei ja nun mal der zweitreichste Mann des Landes. Insofern gehe das Ganze schon in Ordnung.
Vom Fabrikgelände, das sich hier früher mal erstreckte, steht noch ein Schornstein, und darauf nistet bis heute der Storch, der dem neuen Anwesen seinen Namen gegeben hat. Fotos auf einer Tafel belegen, dass sich der Storch im Laufe der Bauarbeiten wenig irritieren ließ. Jenseits des Ausgangs trifft man ihn jetzt an, wie er durch ein benachbartes Feld stakst. Offenkundig interessiert er sich nach wie vor ebenso wenig für EU-Subventionen wie das Tagesausflügler-Pärchen drinnen, solange ihm genug Frösche vor den Schnabel hüpfen.
Genau diese Haltung ist es, die Beobachtern zufolge Babiš die Machtbasis sichert. "Ein großer Teil der Menschen sieht die Lage nicht als schlecht an", sagt der Prager Theaterautor und Aktionskünstler Petr Šourek, der für Touristen alternative Stadtführungen auf den Spuren der Korruption veranstaltet: Ein Teil der Gesellschaft dämmere in einem "mitteleuropäischen Biedermeier", sagt Šourek, Babiš treffe genau den Nerv jener vielen Tschechen, die sich nicht mit Details der Politik herumschlagen wollten, sondern froh seien, wenn ein oberster Manager des Landes sich darum kümmert. Šourek ist skeptisch, ob die Proteste einen großen Umbruch einleiten. "Babiš hat eine einigermaßen verlässliche Wählerschaft von rund 30 Prozent", sagt Šourek, "und mehr braucht er auch nicht, weil die Opposition so zersplittert ist".
Brünn, zweitgrößte Stadt des Landes, Platz der Freiheit, an einem hitzigen Abend Mitte Juni. "Schmetterlinge! Rücktritt!", ruft ein Mann mit Stoppelbart und drischt dazu auf eine Trommel ein. Um diese arg verkürzte Protestformel zu verstehen, muss man ein bisschen im Archiv der Babiš-Zitate kramen. Auf den Feldern seines Landwirtschafts-Konzerns blühe sehr viel Raps, hielt er einmal Kritikern entgegen, und daran labten sich die Schmetterlinge; wer also Schmetterlinge liebt, könne nicht ernsthaft gegen seine Geschäfte sein.
Geschäfte, deretwegen der Premierminister immer mehr unter Druck gerät. Ein Bericht der EU-Kommission kam kürzlich zu dem Schluss, dass Babiš in einem klaren Interessenkonflikt stecke: Obwohl er seinen Agrofert-Konzern vor Amtsantritt in zwei Treuhandfonds übertragen habe, kontrolliere er ihn de facto weiterhin. Und profitiere so von EU-Subventionen, auf deren Verteilung er in Brüssel Einfluss habe. Nachdem der Bericht öffentlich wurde, wetterte der bislang so europafreundlich auftretende Babiš: Die Vorwürfe aus Brüssel seien "ein Angriff auf die tschechische Republik".
Die Menschen hier auf dem Platz in Brünn, rund 6000 sind es laut Polizei, lassen sich mit solchen Slogans nicht sedieren. "Andrej, du kannst uns nicht kaufen", steht auf einem Transparent, "Wir wollen kein Toastbrot, wir wollen bessere Schulen", auf einem anderen; ein Verweis auf das Bäckerei-Imperium von Agrofert, das auch die Firma Lieken in Deutschland umfasst.
Ein Mann mit Rauschebart hält sich an einer mächtigen Europa-Flagge fest: Adam Hladky, 67. Er habe 1989 auch auf diesem Platz gestanden, erzählt er, und er wirft Babiš vor allem vor, dass dieser sich in seiner Minderheitsregierung von den Kommunisten tolerieren lasse: "Sie sind immer noch da." Dann legen die Organisatoren eine Schweigeminute ein: für die Opfer der Nazi-Massaker im Juni 1942, als die Deutschen unter anderem ein ganzes Dorf namens Lidice vernichteten. Später gibt es eine weitere Gedenkminute, für die Opfer des Kommunismus.
Spätestens jetzt wird klar, dass hinter den Protesten Grundsätzlicheres steckt als der aktuelle Unmut über die Vermischung von Business und Politik. Umso dringender stellt sich die Frage: Vor 30 Jahren haben die Menschen dieses Landes einen Dichter und Denker namens Václav Havel zu ihrem Präsidenten gemacht, jetzt lassen sie sich von einem Storchennest-Betreiber regieren. Wie konnte das passieren?
"Wir haben Business über Ethik und Rechtsstaatlichkeit gestellt"
Einer, der eine Antwort auf diese Frage hat, sitzt heute in einem sparsam möblierten Büro am Rand der Innenstadt, an der Wand reihen sich Fotos von Flüchtlingen in Afghanisten, Syrien, Kosovo. Šimon Pánek ist der Chef von "Mensch in Not", der größten Hilfsorganisation des östlichen Europa. 1989 war er Anführer der Studentenproteste gegen das kommunistische Regime, es gibt viele Fotos, auf denen man ihn zusammen mit Havel sieht. Man müsse aufpassen, sagt Pánek, mit voreiligen Vergleichen zwischen 1989 und heute: Die heutige Regierung sei ja durchaus rechtmäßig gewählt. "Babiš hat eine Marktlücke entdeckt und erfolgreich ausgefüllt."
Die marktliberale, oft rücksichtslose Privatisierungspolitik der 1990er-Jahre habe vielen das Vertrauen in die bestehenden Parteien genommen, sagt Pánek: "Wir haben Business über Ethik und Rechtsstaatlichkeit gestellt." Und: "Vielleicht haben wir unterschätzt, wie sehr schon zuvor der Kommunismus die Werte und die politischen Traditionen in unserer Gesellschaft getötet hat."
Sein Vater habe ihm damals, während er die Studentenproteste anführte, gesagt: Junge, du bist viel zu optimistisch. Das dauert mindestens zwei Generationen. "Im Nachhinein muss ich sagen, dass er recht hatte", sagt Pánek. Die ehemals kommunistisch regierten Gesellschaften der Region hätten es nach 1989 nicht geschafft, genug demokratische Führungspersönlichkeiten hervorzubringen, echte Staatsmänner.
Hätte nicht er eine solche Führungspersönlichkeit werden können? "Ja", schnellt es aus Pánek heraus, ohne Zögern, "natürlich, es gibt Situationen, da denkt man darüber nach, welche persönliche Verantwortung man daran hat, wie sich das Land entwickelt." Aber er war damals erst 22 Jahre alt, er habe sich zu jung gefühlt für eine politische Karriere. Und seither ist er mit seiner Arbeit in der humanitären Hilfe gut ausgelastet.
"Es ist, wie es ist", sagt er und überreicht dem Gast zum Abschied den Jahresbericht seiner Organisation. Es sind darin nicht nur Hilfsprogramme für dürregeplagte Bauern in Äthiopien und die Angehörigen politischer Gefangener in Aserbaidschan beschrieben, sondern auch für Schüler mit Lernschwierigkeiten und überschuldete Familien in Tschechien. So wirkt er zumindest daran mit, die Folgen der verfehlten Politik seines Landes etwas zu lindern.
Nachdem die Proteste sich vergangene Woche auf die kleineren Städte jenseits von Prag konzentrierten, ist die nächste Demonstration für kommenden Sonntag in der Hauptstadt geplant, diesmal im Letná-Park, einem der Schauplätze der Samtenen Revolution von 1989. Als die Organisatoren an diesem Abend in Brünn den Termin von der Bühne herab ankündigen, schallt es ihnen tausendfach vom Platz der Freiheit entgegen: "Wir kommen! Wir kommen!"