Protest gegen Stuttgart 21:Völlig aus der Spur

Der Union droht ein Wahldesaster: Ein halbes Jahr vor der Wahl wirbelt der Protest gegen Stuttgart 21 die politischen Verhältnisse in Baden-Württemberg durcheinander. CDU und FDP organisieren dennoch trotzig ihren "Widerstand gegen den Widerstand".

Sebastian Beck

Zumindest am Bahnhof von Wangen im Allgäu haben die Grünen an diesem Abend schon mal das Sagen. Pünktlich um 19 Uhr machen die 50 Demonstranten eine Minute lang Krach, dann hebt Bernd Zander, der Landtagskandidat der Partei, zu einer Rede an. "Der Bernd", wie ihn hier alle nennen, wirkt sehr lässig mit seinem grünen Käppi und dem farblich abgestimmten Band, an dem seine Trillerpfeife hängt. "Die Junge Union muss verstehen lernen, dass politische Beschlüsse umkehrbar sind", doziert der Bernd.

Montagsdemonstration gegen 'Stuttgart 21'

Dunkle Wolken über Stuttgart: Gegener das Bahnprojekts demonstrieren vor dem Hauptbahnof gegen "Stuttgart 21".

(Foto: dapd)

Die Adressaten seiner Ansprache drängen sich fünf Meter entfernt vor ein paar Büschen. Verlegen halten sie ihre Plakate hoch, auf denen "Pro S21" steht. Angeführt wird das Häuflein der 25 Protestnovizen von Christian Natterer, dem Kreischef der Jungen Union. Auch ein FDP-Lokalpolitiker ist dabei, er hat seinen Porsche etwas weiter weg geparkt. Ein einzelner SPD-Mann beobachtet die Szenerie als Zuschauer. Er wirkt so, als wüsste er nicht, auf welche Seite er sich schlagen solle.

Nach Zander möchte auch Natterer mal was Grundsätzliches loswerden: In zehn Jahren, sagt Natterer, werde man dankbar sein für das Neubauprojekt der Bahn. "Das ist unsere Kundgebung", gibt ihm Bernd genervt zurück, "ihr lauft uns doch nur hinterher."

Es beginnt ein lebhafter Streit, in dessen Verlauf Schmähgedichte und ein Lied vorgetragen werden; am Schluss baut sich Bernd Zander mit einer Grünen-Fahne vor dem Bahnhof auf und sagt, wo es lang geht: "Es geht jetzt Richtung Feierabend machen." Er meint damit zwar die Pläne der Bahn, aber auch die Aktivisten ziehen sich in die Gaststätten zurück, um ihre Strategien zu beraten. Denn der Kampf um Baden-Württemberg hat gerade erst begonnen.

Dabei ist die Lage schon jetzt so verworren, dass selbst die Großstrategen der Parteien nur zwei Aussagen mit Gewissheit treffen können: Erstens wird am 27. März 2011 in Baden-Württemberg der Landtag gewählt, und zweitens ist alles möglich, ja sogar ein Sieg der CDU und ihres Ministerpräsidenten Stefan Mappus, obwohl ein solcher Wahlausgang zu den eher unwahrscheinlichen Szenarien zählt.

Peter Hauk hofft fest darauf: "Ich sehe keine Wechselstimmung", behauptet er. Der CDU-Fraktionschef im Landtag ist ein smarter Typ mit Brille und Dreitagebart. Er sitzt in einem Besprechungsraum der Landesbank; in Sichtweite räumen Bagger am Stuttgarter Hauptbahnhof die Trümmer des Nordflügels ab. Eine Hundertschaft der Polizei wacht vor der Baustelle, die Beamten wirken gereizt. Es ist ein außergewöhnlicher Tag in der Landeshauptstadt, denn heute soll es keine Demonstrationen geben.

Ein Projekt, das zum Symbol wurde

Ein halbes Jahr noch bleibt Hauk und seinen Parteifreunden, um das Wahldesaster für die Union abzuwenden. Der Streit um den Bahnhofsbau hat die festgefügte Welt in Baden-Württemberg aus den Angeln gehoben. Bis vor ein paar Monaten noch stritten sich die Parteien um die Zukunft der Schulen auf dem Land. Diese und alle anderen Debatten sind im Getöse um Stuttgart 21 untergegangen, ein Projekt, das für Gegner wie Befürworter zum Symbol geworden ist: "Es geht um die Zukunftsfähigkeit des Landes", sagt Hauk mit heiligem Ernst.

Und es geht darum, wer künftig die Macht hat. Denn unter den Wählern ist eine Völkerwanderung in Gang gekommen, so chaotisch wie unberechenbar und daher gefährlich für die Parteien. Anhänger der CDU laufen scharenweise zu den Grünen über, die gerade dabei sind, die SPD als zweitstärkste Kraft zu verdrängen. Die Koalitionspartner von der FDP nähern sich in Umfragen der Fünf-Prozent-Grenze. In der CDU wären viele froh darüber, wenn sie die FDP auf diese Weise loswürden. Aber was dann? Mit der SPD oder den Grünen regieren? Das erscheint ausgeschlossen. Also doch Untergang und Opposition?

Gegen alle Widerstände

Hauk skizziert den Rettungsplan der CDU, den Mappus vorgegeben hat: Die Landesregierung will das Bahnprojekt gegen alle Widerstände fortsetzen und so Eindruck schinden. 30.000 Demonstranten seien schließlich nicht die Mehrheit in Baden-Württemberg, sagt Hauk. Man müsse nur oft genug die positiven Seiten von Stuttgart 21 betonen, so lautet das Kalkül, dann werde die Stimmung schon kippen. Er glaubt sogar einen ersten Lichtstreif am Horizont zu erkennen: "Der Widerstand gegen den Widerstand nimmt zu, und zwar massiv."

In der CDU kommen solch klare Worte gut an, nachdem sich die Landesregierung über Wochen zunächst weggeduckt hat. "Ich freue mich, dass Mappus sein Fähnlein nicht in den Wind hängt", sagt etwa Paul Locherer. Der 55-jährige ist Bürgermeister der Gemeinde Amtzell, nur ein paar Kilometer entfernt von Wangen. "Wir denken hier grün und wählen schwarz", umschreibt Locherer die Mentalität in Oberschwaben. Zumindest war das so in der Vergangenheit.

Bei der Landtagswahl 2006 hat er in seinem Wahlkreis 58 Prozent der Stimmen bekommen - so viel wie kein anderer Kandidat der CDU in Baden-Württemberg. Auch hier muss sich Locherer jetzt mit Stuttgart 21 herumschlagen, obwohl er lieber über soziale Netzwerke, Biomasse und seine Modellschule reden würde: "Das Thema ist präsent, die Leute diskutieren es." Für Locherer gibt es keine Zweifel: Er ist für Stuttgart 21 und die Neubaustrecke nach Ulm - wie viele andere Lokalpolitiker auch. "Leider ist das Projekt stümperhaft verkauft worden." Das soll sich nun ändern.

Wer entscheidet im Land?

Die Überzeugungsarbeit dürfte der CDU schwerfallen, denn außer um komplizierte Sachfragen geht es jetzt auch noch um Grundsätzliches: Wer entscheidet im Land eigentlich? Die Bürger oder die von ihnen gewählten Politiker? Ausgerechnet die SPD versucht sich mit der Forderung nach einem Baustopp und einer Volksabstimmung zurück ins Gespräch zu bringen. Dabei unterstützt die Partei - zumindest offiziell - das Bauvorhaben. Sie hat das bisher jedoch auf so unauffällige Weise getan, dass sie völlig aus der Debatte verschwunden ist. Wer in Stuttgart Landespolitikern Fragen nach der SPD stellt, dem antworten Gesprächspartner als erstes mit einer Geste: Sie schlagen die Hände über dem Kopf zusammen.

Ein Volksentscheid soll her

Nur Nils Schmid lächelt freundlich. Der 37-Jährige ist Landesvorsitzender der SPD und soll im Oktober zum Spitzenkandidaten gewählt werden. Danach will er sich auf Friedensmission durch Baden-Württemberg machen. Es werde eine Dialogtour mit den Bürgern geben, verspricht Schmid und verweist auf die Wahlkampf-Charta, die im Büro an der Wand hängt: "Wir sind lern- und dialogfähig", heißt es da. Der CDU wirft Schmid vor, sie spalte mit ihrer sturen Haltung die Gesellschaft, Mappus demonstriere die Ignoranz der Macht, indem er die Forderung nach einem Volksentscheid niederbügele. Doch politische Führung zeige sich daran, dass die Bürger entscheiden - mit allen Folgen.

Also soll ein Volksentscheid her, zur Rettung des inneren Friedens, aber auch der SPD. Der Termin dafür könnte frühestens im Dezember oder Januar angesetzt werden, allerdings müsste Ministerpräsident Mappus davor eine Wende um 180 Grad machen, was so gar nicht zum Bild des schneidigen Entscheiders passt, das er von sich gerade zeichnet. Zwar lässt er die Möglichkeit für ein Plebiszit verfassungsrechtlich prüfen. Doch hat er bereits mehrmals klar gemacht, dass die Landtagswahl am 27.März zugleich die Volksabstimmung über Stuttgart21 sein wird. Sein Fraktionschef Hauk äußert sich da vorsichtiger: Die CDU werde einem Volksentscheid nur dann zustimmen, wenn die Verfassung nicht mittels Tricksereien verbogen werde ; wie das gehen solle, wisse auch er nicht.

Nach Vorstellung der SPD könnte der "Trick"darin bestehen, dass die Landesregierung einen Gesetzentwurf zum Ausstieg aus dem Projekt vorlegt und der Landtag ihn ablehnt. Anschließend würde der Entwurf dem Volk zur Abstimmung vorgelegt. Wenn die Stimmung so bleibt, wäre dies das Ende der Bahnpläne - und der Regierung Mappus.

Seine Gegner werfen ihm daher vor, er spiele auf Zeit und versuche so, das Projekt unumkehrbar zu machen. Diese Strategie werde man notfalls mit einem Volksbegehren für einen Ausstieg durchkreuzen, heißt es neuerdings aus den Reihen der Grünen: Damit es zum Volksentscheid kommt, müsste innerhalb von zwei Wochen ein Sechstel der Wahlberechtigten das Begehren unterzeichnen. Ein hohe, aber überwindbare Hürde.

Keine Fußnoten

Doch die siegesgewissen Grünen haben selbst noch eine grundsätzliche Frage nicht beantwortet: Was ist, wenn sie zusammen mit der SPD die Wahl gewinnen, aber der Ausstieg tatsächlich mehr als eine Milliarde Euro kosten sollte? "Dass wir regieren und weiterbauen, das wird es nicht geben", erklärt Tübingens grüner Oberbürgermeister Boris Palmer kategorisch. "Das funktioniert nicht."

Winfried Kretschmann, der Fraktionschef der Grünen im Landtag beantwortet die Ausstiegsfrage so: "Wir versprechen alles dafür zu tun, können es aber nicht garantieren. Das wäre unseriös." Er und seine Weggefährten sind so nah dran an der Macht, nach drei Jahrzehnten Opposition. Der 62-jährige Kretschmann zählt zu den Gründungsmitgliedern der Grünen in Baden-Württemberg. Er könnte Geschichte schreiben, wie einst Joschka Fischer, der 1985 in Hessen als erster grüner Minister vereidigt worden war. Kretschmann wäre nach einem Wahlsieg womöglich der erste grüne Ministerpräsident Deutschlands. Sollte er darauf wirklich verzichten, bloß wegen Stuttgart 21?

Mit Fußnoten wollen sich die Grünen derzeit lieber nicht beschäftigen. Auch ihr Kandidat Zander redet am Bahnhof in Wangen lieber vom baldigen Triumph über Bahn und CDU. Davor aber, so prophezeit er, werde sich die Lage zuspitzen. Hier widerspricht ihm niemand.

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