Süddeutsche Zeitung

Protest gegen Stuttgart 21:Die ersten Bäume sind gefallen

"Aufhören", "Verräter", "Schweine": Noch spät in der Nacht gellten Sprechchöre und Trillerpfeifen durch den Stuttgarter Schlossgarten. Geholfen hat es nicht: Um ein Uhr begannen die Abholzarbeiten. Doch die Demonstranten wollen nicht aufgeben.

Trotz aller Proteste - die ersten Bäume im Stuttgarter Schlossgarten sind in der Nacht dem umstrittenen Neubau des Hauptbahnhofs zum Opfer gefallen. Begleitet von anhaltenden, aber friedlichen Protesten begannen nach Mitternacht planmäßig die Baumfällarbeiten.

Gegen ein Uhr rollten Bagger mit Sägen hinter den Kordon aus etwa 1000 behelmten Polizisten: Innerhalb kürzester Zeit fällten und schredderten sie einen Gutteil der etwa 25 Bäume, die zunächst fallen sollten.

Obwohl die Kreissägen nun arbeiten, für die Gegner ist das kein Grund zum Aufgeben: "Der Kampf ist bei weitem nicht vorbei", sagte Matthias von Herrmann von den Parkschützern, die unter anderem mit Baumbesetzungen das Fällen hatten verhindern wollen. Die Protestler hatten kurz vor Beginn der Baumfällarbeiten noch erklärt, sie wüssten von einem Baumfäll-Stopp, den das Eisenbahnbundesamt verfügt habe.

Trotz Dauerregens standen auch um sechs Uhr morgens noch Hunderte Parkschützer ebenso vielen Polizisten gegenüber. Immer wieder machten Demonstranten ihrem Unmut mit Pfiffen oder Sprechchören Luft, während im Hintergrund die Maschinen liefen.

An die 300 Bäume werden im Stadtpark in der Stuttgarter Innenstadt gefällt, um mit den Tiefbauarbeiten für die Verlegung des Hauptbahnhofs zu beginnen. Anders als am Donnerstagnachmittag kam es in der Nacht nicht zu einer offenen Eskalation der Gewalt.

Die Polizei setzte keine Wasserwerfer ein, dafür aber erneut Pfefferspray, wie ein Sprecher mitteilte. Einige der etwa 1500 bis 3000 Demonstranten hätten Kastanien, Flaschen und Farbbeutel in Richtung der Arbeiter und Beamten geworfen. Zudem hätten vermummte Demonstranten wiederholt versucht, über die Absperrgitter zu klettern.

"Friedlich ist etwas anderes", sagte ein Polizeisprecher. Es habe aber keine Verletzten gegeben.

Entsetzen über das harte Vorgehen der Polizei

Ganz im Gegensatz zum Donnerstagnachmittag, als die bisher friedlichen Proteste in offene Gewalt umgeschlagen waren. Baden-Württembergs Innenminister Heribert Rech (CDU) gab die Schuld dafür eindeutig den Anti-Stuttgart-21-Aktivisten. Die Polizei sei entsetzt gewesen über die Aggressivität, die ihr entgegengeschlagen habe, sagte Rech im SWR-Fernsehen.

Dem widersprach der Grünen-Landtagsabgeordnete Werner Wölfle energisch: "Die einzige Tat der Demonstranten war, dass sie den Park nicht geräumt haben." Auch SPD und Gewerkschaften zeigten sich entsetzt über das harte Vorgehen der Polizei.

Am Donnerstagnachmittag hatten mehr als 400 Demonstranten im Schlossgarten Augenreizungen erlitten, einige trugen Platzwunden und Nasenbrüche davon, teilte das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 mit. Die Aktivisten hatten versucht, die Räumung des Parks mit Sitzblockaden zu verhindern.

Das Rote Kreuz versorgte den Angaben zufolge 114 verletzte Demonstranten, von denen 16 in Krankenhäuser mussten. Zudem seien sechs Beamte verletzt worden. Insgesamt 26 Demonstranten im Alter zwischen 15 und 68 Jahren wurden laut Polizei vorübergehend festgenommen. Eine genauere Bilanz des Einsatzes im Schlossgarten will Stuttgarts Polizeipräsident Siegfried Stumpf am Freitagvormittag bei einer Pressekonferenz ziehen.

Die Demonstranten machte indes vor allem der harte Polizeieinsatz gegen eine Schülerdemonstration wütend. Innenminister Rech nannte das Vorgehen seiner Beamten jedoch verhältnismäßig. Die angemeldete Demonstration habe nicht den Verlauf genommen wie erwartet und sei in Gewalt ausgeartet.

Einsatz "völlig angemessen"

Der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, verteidigte den Einsatz als "nicht nur rechtmäßig, sondern auch vollkommen angemessen". Der Neuen Osnabrücker Zeitung sagte er: "Wo ein Abdrängen von Demonstranten nicht mehr möglich ist, darf und muss unmittelbarer Zwang durch Wasserwerfer, Reizgas oder Schlagstöcke eingesetzt werden."

Baden-Württembergs Verkehrsministerin Tanja Gönner (CDU) sagte im Deutschlandfunk, es sei unverhältnismäßig, dass Baustellen für Zukunftsprojekte in einem solchen Umfang abgesichert werden müssten. "Wir hätten gerne eine Baustelle eingerichtet ohne Polizeieinsatz."

Bei den Protesten der Stuttgart-21-Gegner sei die Grenze der Friedlichkeit überschritten worden. Sie bedauere, dass beim Polizeieinsatz auch Kinder verletzt wurden. Es könne aber nicht sein, "dass Kinder in solch einer Demonstration bewusst nach vorne geschoben werden", sagte Gönner. Zudem hätten Schüler Polizeiwagen besetzt. "Ich bin mir nicht sicher, ob man das als friedlich bezeichnen kann."

Politisches Nachspiel im Bundestag

Die Grünen und die Linkspartei hingegen kritisierten auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wegen der Gewalteskalation in Stuttgart. Sie habe die "rücksichtslose Durchsetzung von Stuttgart 21 ohne Not öffentlich zur Chefsache erklärt", hieß es von der Linken. Damit habe sie Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) und die Polizeiverantwortlichen zu einem "überharten Vorgehen" ermuntert. Der Polizeieinsatz wird an diesem Freitag ein Nachspiel im Bundestag haben: Die Linksfraktion hatte eine Sondersitzung des Innenausschusses beantragt.

Die Kanzlerin selbst appellierte indes an die Gegner des Bahnprojekts, gewaltfrei zu demonstrieren. "Ich wünsche mir, dass solche Demonstrationen friedlich verlaufen", sagte Merkel dem SWR-Hauptstadtstudio. "Das muss immer versucht werden und alles muss vermieden werden, was zu Gewalt führen kann."

Der Bund für Umwelt und Naturschutz will die weiteren Baumfällarbeiten mit einer einstweiligen Anordnung stoppen lassen. Ein entsprechender Antrag ging am Donnerstag beim Verwaltungsgericht Stuttgart ein und wird geprüft, wie eine Gerichtssprecherin bestätigte.

Das Projekt Stuttgart 21 sieht den Umbau des Kopfbahnhofs in eine unterirdische Durchgangsstation und deren Anbindung an die geplante ICE-Neubaustrecke nach Ulm vor. Die Bahn rechnet mit Gesamtkosten von sieben Milliarden Euro. Kritiker befürchten eine Kostensteigerung auf bis zu 18,7 Milliarden Euro.

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