Propaganda:Russland hui, Deutschland pfui

Sie sollen von den eigenen Problemen ablenken: Erfundene Geschichten haben in Moskauer Medien Tradition.

Von Julian Hans

Es kommt nicht oft vor, dass zwei Staaten auf höchster Ebene über das Schicksal eines 13-jährigen Mädchens diskutieren. Und nicht über die große Fragen der Weltpolitik. Zwei Tage schon debattieren Deutschland und Russland nun über den Fall der 13-Jährigen aus Berlin. "Über unser Mädchen", wie sie der russische Außenminister Sergej Lawrow am Dienstag nannte. Deren Verschwinden sei "aus irgendwelchen Gründen sehr lange verheimlicht" worden, sagte Lawrow und wünschte Deutschland "Erfolg dabei, mit den schwerwiegenden Problemen zurechtzukommen", die von den Migranten verursacht würden.

Dass der russische Außenminister eine von den Staatsmedien aufgebauschte und verzerrte Geschichte aufgriff und auf oberster Regierungsebene adelte, war dann auch der Bundesregierung zu viel. "Es gibt keinen Grund und keine Rechtfertigung den Fall dieses 13-jährigen Mädchens, der bis zur Stunde nicht restlos aufgeklärt ist, für politische Propaganda zu nutzen", sagte Außenminister Frank-Walter Steinmeier.

Sein Sprecherergänzte in Bezug auf die russischen Medien: "Lügen haben kurze Beine." Ob die Bürger tatsächlich alle in der Lage sind, Fakten von Erfindungen zu trennen, muss bezweifelt werden. Seit der Staatssender Rossija 1 vor zehn Tagen einen Bericht über die angebliche Vergewaltigung der minderjährigen Russlanddeutschen brachte, wurde er auch in Deutschland Zigtausende Male geteilt. Das Muster, nach dem Diplomatie und Staatsmedien zusammenspielen, ist bewährt: Nachdem erfundene Schreckensmeldungen verbreitet wurden, fordert das Außenministerium Aufklärung über diese beunruhigenden Nachrichten. Auf diese Weise wurde der Krieg im Donbass vorbereitet: Bevor es echte Bilder von Toten gab, illustrierten russische Medien die angeblichen Gräueltaten der ukrainischen Armee mit Kampfszenen aus dem Tschetschenien-Krieg oder Bildern von Kinderleichen im Nahen Osten. Die Szenen dienten dann als Rechtfertigung dafür, die "Landsleute" in der Ostukraine zu verteidigen. Für diese Form der Kriegstreiberei setzte die EU den Chef der Propaganda-Agentur Rossija Sewodnja auf die Sanktionsliste.

Der Ton der Berichte kommt dem rechtsextremer Foren sehr nahe: "Chronik des Untergangs Deutschlands: Um den Flüchtlingen zu schmeicheln, verzichtet die katholische Kirche auf Kindstaufen", titelte Russlands größte Boulevardzeitung Komsomolskaja Prawda im September. Die Staatssender zeichneten ein Bild "von einem schwachen Europa, in das barbarische Horden einfallen und friedliche Bürger angreifen", sagt der Moskauer Journalist Alexej Kowaljow, der früher für die staatliche Agentur Ria gearbeitet hat und heute in einem Blog Fälschungen in russischen Medien dokumentiert.

Die Propaganda verfolge ein doppeltes Ziel, sagt er. Die Zuschauer in Russland sollen von den Problemen zu Hause abgelenkt werden. "Im Kanal Rossija gibt es fast keine Nachrichten mehr über Russland." Das zweite Ziel sei die Diaspora. Der Fall Lisa eigne sich bestens, um dem Publikum zu zeigen, dass die westlichen Werte falsch seien. An der Pressefreiheit könne nicht viel dran sein, wenn die deutschen Medien eine Vergewaltigung verschwiegen. Und dass die Behörden zum Schutz des Opfers keine Details der Ermittlungen nennen, wird als Vertuschung ausgelegt.

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