Programm der Piratenpartei:Freiheit, die wir meinen

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Sie sehen aus wie Nerds, tragen Kapuzenpullis, fordern Transparenz und direkte Demokratie. Trotzdem sind die Piraten keine neue Form der Linken. Ihre Forderungen sind längst nicht mehr Spezialanliegen einer Netzcommunity, sie sind für die ganze Gesellschaft relevant. Doch woher kommen die Ideen und Programmansätze? Versuch einer politischen Vermessung.

Niklas Hofmann

Nur in zwei Dingen scheinen sich die Wähler der Stadt Berlin, die in ihren Bezirken und Kiezen so stark in unterschiedliche Milieus zerfällt, einigen zu können: Niemand mag die FDP, die selbst in gutbürgerlichen Westbezirken nicht mehr als drei Prozent bekommt - und in allen Stadtteilen liegen die Piraten weit über der Fünf-Prozent-Hürde. In manchen Ecken der Stadt liegen sie vor den Grünen, in anderen gar vor der CDU.

Neue Gesichter im Berliner Abgeordnetenhaus
:Das sind die Piraten

Mit 8,9 Prozent der Stimmen ist die Piratenpartei ins erste deutsche Landesparlament gestürmt. Auf der Berliner Landesliste standen 15 Kandidaten - alle sind nun Abgeordnete. Wer sie sind und wofür sie sich einsetzen.

Die Plattenbauten von Marzahn-Hellersdorf und die bürgerlichen Straßenzüge von Steglitz sind aber derart weit entfernt von jeder digitalen Bohème, dass sich die Basis der Piraten nicht auf irgendeine Form von eingeschworener "Netzgemeinde" reduzieren lässt. Der emphatische Freiheitsbegriff der Piratenpartei, der seine Wurzeln sehr wohl im Netz hat, erscheint gesamtgesellschaftlich anschlussfähiger als der Gel-und-Krawatten-Liberalismus der Rösler-Lindner-Westerwelle-FDP.

Das Grundsatz- und das Wahlprogramm der Berliner Piratenpartei enthalten Punkte wie die kostenlose Freigabe des öffentlichen Nahverkehrs und das Recht auf ein bedingungsloses Grundeinkommen, die Kommentatoren am Wahlabend als "radikal links" bezeichneten. Der Kapuzenpulli-Habitus mancher Mitglieder mochte einen derartigen Eindruck verstärken. Die Grundwerte der Piraten entziehen sich aber einer Einordnung nach dem klassischen Rechts-links-Schema.

Große Namen gegen Netzregulierung

"Frei", "offen", vor allem aber "transparent" sind die Schlagworte, die die Programme der Piratenbewegung prägen, seit sie vor fünf Jahren in Schweden zum ersten Mal Parteiform annahm, geboren aus dem Kampf gegen das geltende Urheberrecht. Zu einem der wichtigsten Grundlagentexte der Bewegung wurde die "Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace", die der einstige Songschreiber der Grateful Dead und Mitgründer der Electronic Frontier Foundation, John Perry Barlow, 1996 verfasst hat. Gegen staatliches Streben nach Netzregulierung beschwor er die Namen der großen Liberalen Thomas Jefferson, John Stewart Mill, Alexis de Tocqueville oder Louis Brandeis.

Die zunehmenden feindlichen und kolonialen Maßnahmen versetzen uns in die Lage früherer Verteidiger von Freiheit und Selbstbestimmung, die die Autoritäten ferner und unwissender Mächte zurückweisen mussten", heißt es in jener Übersetzung, die sich auch im Diskussions-Wiki der Piratenpartei findet. Und: "Wir schreiben unseren eigenen Gesellschaftsvertrag. Unsere Regierungsweise wird sich in Übereinstimmung mit den Bedingungen unserer Welt entwickeln, nicht eurer. Unsere Welt ist anders."

Das Gedankengut, das Barlow ausbreitete, ist in Amerika tief verwurzelt - es ist das des Libertarismus. Aus einer hohen Wertschätzung für die Freiheit des Individuums leitet sich eine extreme Skepsis gegenüber Staat und Regierung ab, die nur durch direkte Partizipation Legitimität erhalten. In Deutschland war das bislang allenfalls das Steckenpferd einer Art Fundi-Gruppierung innerhalb der FDP. Der Libertarismus ist aber in den USA eine höchst breite Bewegung. Zu ihr gehören die Jünger Ayn Rands, der Prophetin eines egoistischen Radikal-Kapitalismus - unter ihnen der republikanische Kongressabgeordnete und ewige Präsidentschaftskandidat Ron Paul, der sich vor allem auf eine Basis im Netz stützt - ebenso wie libertäre Sozialisten, die sich an anarchistischen Denkern der vorletzten Jahrhundertwende orientieren. Unter den ausgeprägten Individualisten, die das frühe Internet bevölkerten, fand der Libertarismus eine große Anhängerschaft, vor allem seit der Staat begann, im Netz zu regulieren.

Solche theoretischen Wurzeln darf man nicht überbewerten. Doktrinäre Treue gilt bei den Piraten nun wirklich nicht als Tugend. Unter den neuen Berliner Abgeordneten sind auch solche, die sich für Karl Marx begeistern können; der Bundesvorsitzende war zuvor in der CDU.

Neue Größe in der deutschen Politik: Das Gedankengut der Piratenpartei hat seine Wurzeln im Internet, aber es findet Anklang weit über die Netzgemeinde hinaus. (Foto: dapd)

Gerade das, was bei den Aussagen des Spitzenkandidaten Andreas Baum am Wahlabend politischen Profis als ausweichend erschien, macht ein Versprechen aus. Denn libertär an den Piraten ist nicht zuletzt ihr Hang zu einer möglichst direkten Form der Demokratie. Die Abgeordneten sollen den explizit artikulierten Willen ihrer Wähler vertreten, der immer im Fluss und über Beteiligungstools veränderlich ist. Die Überzeugung, mit den Mitteln des Internets überlegene Problemlösungen für jeden Einzelfall ermitteln zu können, verankert sie fest in Barlows Cyberlibertarismus.

Dass dieser so stimmenträchtig ist, liegt auch daran, dass inzwischen eine ganze Generation nach den Gesetzen des Internets sozialisiert worden ist. Wer zur Eröffnung eines Geschäfts im Internet weder eine Baugenehmigung noch eine Abnahme durch die Gewerbeaufsicht gebraucht hat, der wird auch sonst den Sinn bürokratischer Regulierung kaum einsehen wollen. Wer gelernt hat, dass er anderswo per Mausklick jeden ausgegebenen Regierungs-Euro verfolgen kann, wird nicht verstehen, dass die Behörden seiner Heimatstadt bei jeder Gelegenheit das Amtsgeheimnis vorschieben.

Piraten auf den Spuren Willy Brandts

Das Internet ist in vielem ein Raum größerer Freiheit. Manche in den etablierten Parteien, das zeigte sich nach dem Attentat in Norwegen, empfinden das Netz immer noch als Bedrohung und wollen es den Gesetzen der Offline-Welt unterwerfen. Aber ein erheblicher Teil der Wählerschaft will offenbar lieber den umgekehrten Weg gehen und seinen Freiheitsraum auch außerhalb des Netzes ausbauen.

"Mehr Demokratie wagen" lautet der bekannteste Willy-Brandt-Slogan. Die Piraten haben ihn sich zu eigen gemacht. Forderungen nach Offenheit und Transparenz in Abgeordnetenhaus und Senat bestimmten die Plakatkampagne und die öffentlichen Statements der Piraten-Kandidaten, längst sind es nicht mehr irgendwelche Spezialanliegen einer Netzcommunity. Der Whistleblower-Schutz steht als eigener Punkt im Programm der Bundespiratenpartei. In der Post-Wikileaks-Epoche kommt all das gut an - gerade in einer Stadt, in der eine Mehrheit den Senat per Volksentscheid erzwungen hat, die Privatisierungsverträge der Wasserbetriebe offenzulegen.

Der Wahlerfolg der Piratenpartei ist auch ein Kind von Leaking-Debatte und Open-Data-Bewegung. Dass der nun scheidende Linken-Wirtschaftssenator Harald Wolf noch am vergangenen Mittwoch das erste zentrale Datenportal eines deutschen Bundeslands frei schaltete, half ihm dann auch nicht mehr.

© SZ vom 20.09.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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