Deutschland muss aufgrund des Familiennachzugs mit Hunderttausenden weiteren Flüchtlingen rechnen. Sie werden vor allem als Ehegatten, Kinder oder Eltern unbegleiteter Minderjähriger aus Syrien in die Bundesrepublik kommen. Das geht aus einer Prognose des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf) vom Jahresende 2015 hervor, die der Süddeutschen Zeitung vorliegt.
Die Experten des Bamf schreiben in dem dreiseitigen Papier, diese Entwicklung werde sich zwar über viele Monate hinziehen. Wenn man Faktoren wie Alter, Kinderzahl und bereits mitgereiste Angehörige aber berücksichtige, sei damit zu rechnen, dass im Durchschnitt für jeden anerkannten syrischen Flüchtling ein Angehöriger nach Deutschland kommen werde.
Weniger als gedacht
Laut Ankunftsstatistik des Bamf kamen 2015 etwa 428 000 Syrer nach Deutschland; in den ersten fünf Monaten dieses Jahres waren es knapp 72 000. Entsprechend muss mit bis zu 500 000 Flüchtlingen zusätzlich gerechnet werden. Seit Inkrafttreten des Asylpakets II erhalten zwar mehr syrische Flüchtlinge nur noch sogenannten subsidiären Schutz, außerdem wurde der Familiennachzug bei ihnen für zwei Jahre ausgesetzt.
Das wird die Zahlen aber erst für die Zukunft etwas verringern. Die Bamf-Experten widersprechen jenen Prognosen, die in den vergangenen Monaten schon eine Verdreifachung oder Vervierfachung der Flüchtlingszahl durch Familiennachzug vorausgesagt hatten. Gleichzeitig betonen sie, dass auf die Sozialkassen zusätzliche Aufgaben zukommen. Allerdings verweisen die Autoren darauf, dass durch "eine erhebliche zeitliche Verzögerung beim Familiennachzug" die Wirkung nur schrittweise eintreten werde. Tatsächlich gibt es bei der Bewilligung entsprechender Visa an den deutschen Vertretungen in der Türkei und in Beirut (Libanon) erhebliche Wartezeiten. Diese Botschaften sind für syrische Angehörige die wichtigsten. Die Bundesregierung hat die Kapazitäten dort massiv ausgebaut. Trotzdem müssen Antragsteller oft viele Monate auf einen Bescheid warten.
Der Türkei-Deal als "Atempause"
In EU-Kreisen wird von einer "Atempause" gesprochen, die der Deal mit der Türkei ermögliche. Diese Zeit müsse jetzt genutzt werden, um die Zusammenarbeit mit den Transitländern und vor allem den Herkunftsländern der Flüchtlinge zu verbessern. Bisher gelingt es kaum, Herkunftsländer zur Rücknahme von Flüchtlingen zu bewegen. "Millionen Menschen sind auf der Flucht", sagte die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini, "und wir bekommen das nur in den Griff, wenn wir global und partnerschaftlich handeln."
Die Kommission schlägt deshalb vor, die betreffenden Staaten, vor allem in Afrika, mit einer Mischung aus Druck und Vergünstigungen zur Mitarbeit zu motivieren. Dazu sollen "Partnerschaften" vereinbart werden, die auf das jeweilige Land zugeschnitten sind. Wer in Flüchtlingsfragen mehr kooperiert, erhält mehr Geld oder Handelserleichterungen. Die EU will dafür acht Milliarden Euro aus ihrem Haushalt aufwenden, die durch "Hebelwirkung" Investitionen in Höhe von mehr als 60 Milliarden Euro auslösen sollen.