Präsidentschaftswahl in der Türkei:Der inhaftierte Spitzenkandidat

Präsidentschaftswahl in der Türkei: Selahattin Demirtaş im Gefängnis: Er fordert als Spitzenkandidat der pro-kurdischen HDP bei der Wahl am 24. Juni Präsident Erdoğan heraus.

Selahattin Demirtaş im Gefängnis: Er fordert als Spitzenkandidat der pro-kurdischen HDP bei der Wahl am 24. Juni Präsident Erdoğan heraus.

(Foto: AP)

Obwohl er im Gefängnis sitzt, ist Selahattin Demirtaş ein ernst zu nehmender Konkurrent für Präsident Erdoğan.

Von Christiane Schlötzer

Die Stadt Edirne liegt ganz im Westen der Türkei, dort ist Selahattin Demirtaş inhaftiert. Es gab wohl kein Gefängnis, das weiter weg ist von der kurdischen Metropole Diyarbakır, wo Demirtaş und seine Partei HDP ihre Machtbasis haben. Genau: 1685 Kilometer. Falls diese Distanz dazu dienen sollte, den 45-Jährigen aus der Öffentlichkeit zu verbannen, ist die Operation gescheitert. Demirtaş ist Spitzenkandidat der einzig legalen türkischen Kurdenpartei bei der Präsidentenwahl am 24. Juni. Dass ein Politiker aus einer Zelle für das höchste türkische Staatsamt kandidiert, ist schon eine Premiere, aber wie Demirtaş die Nachteile einer Kampagne aus dem Knast zu seinem Vorteil nutzt, das ist ein politisches Kunststück.

Demirtaş, in einem schlichten weißen Hemd, an einem Plastiktisch sitzend, da-rauf Bücher und Teeglas - das Bild kennt inzwischen fast jeder in der Türkei. Seine Anwälte twittern nach jedem Besuch, auch Wahlprogramm und politische Kommentare, häufig voller Humor oder Spott, finden so ihren Weg in die Öffentlichkeit. Verärgert über die vielen Tweets, ließ die Regierung seine Zelle durchsuchen, ein Handy wurde nicht gefunden. Das einzige elektrische Gerät sei ein Wasserkocher gewesen, ließ Demirtaş daraufhin wissen, aber er könne damit bekanntlich Twitter-Nachrichten absetzen, nur bei Whatsapp versage der Kocher.

Bevorzugtes Angriffsziel des Spötters hinter Gittern: Präsident Recep Tayyip Erdoğan, der Demirtaş immer wieder einen "Terroristen" nennt. Dafür bedankte sich dieser schon mal bei Erdoğan, weil der ihm "die Last" abgenommen habe, selbst beweisen zu müssen, dass das Urteil gegen ihn längst feststehe. Mit seiner Präsenz drängt sich Demirtaş auch in die Agenda der anderen Oppositionskandidaten: Sie versprechen, die Wünsche der Kurden, etwa 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung, künftig nicht mehr zu ignorieren.

Erdoğan fordert ein schnelles Urteil

Für Erdoğan und seine AKP läuft die Causa Demirtaş damit offenbar aus dem Ruder. Nun hat Erdoğan überraschend gefordert, das Verfahren gegen den Kurdenpolitiker "so schnell wie möglich" zu beenden. "Dieser Mann sitzt derzeit in Untersuchungshaft, oder? Ja, er ist eingesperrt. Ehrlich gesagt, muss die Justiz ihre Entscheidung so schnell wie möglich treffen", sagte Erdoğan am Sonntag bei einer Wahlveranstaltung. Aus der Menschenmenge war der Ruf "Todesstrafe" zu hören.

Die Todesstrafe ist in der Türkei abgeschafft. Staatsanwälte haben 142 Jahre Haft für Demirtaş gefordert, wegen "Terrorpropaganda und Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation", gemeint ist die kurdische PKK. Demirtaş' Anwälte weisen die Vorwürfe zurück. Sie haben den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg wegen der Länge der Untersuchungshaft - nun 19 Monate - angerufen. Was also bezweckt Erdoğan mit seiner Aufforderung an die Justiz? Hoffnung auf eine Freilassung von Demirtaş oder ein rasches, hartes Urteil? Das eine würde Erdoğan wohl Stimmen von Kurden bringen, auf die es in einer zweiten, entscheidenden Runde der Präsidentenwahl ankommt. Das andere würde stramme Nationalisten begeistern, die Erdoğan ebenfalls braucht. Und es würde bürgerliche Wähler abschrecken, die HDP bei der Parlamentswahl zu unterstützen. Kommt die HDP über die hohe Zehnprozenthürde, ist die absolute Mehrheit für die AKP ungewiss.

Im Internet tauchen wohl deshalb jetzt Fotos des älteren Bruders von Demirtaş auf, in Guerillakluft. Nurettin Demirtaş soll im Nordirak leben, er saß schon einmal mehr als elf Jahre wegen PKK-Mitgliedschaft in Haft. Selahattin Demirtaş, verheiratet mit einer Lehrerin und Vater zweier Töchter, studierte Jura und bemühte sich meist deutlicher als andere HDP-Politiker um Distanz zur PKK. Der SZ sagte er 2015: "Wir vertreten nicht die PKK, und die PKK vertritt nicht uns." Sich selbst bezeichnete der hyperaktive Häftling als "politische Geisel" - in einem Tweet.

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